Physiotherapie bewegt, auch wenn die Tage kürzer werden

Text: Cornelia Prasch, MSc

Mobile Physiotherapeut*innen standen in den „Lockdowns“ der Corona-Krise bei der Betreuung von Palliativpatient*innen vor besonderen Herausforderungen. Nicht immer war ein physischer Kontakt möglich. Wir schreiben den 18.Mai, 2020. Covid 19 bestimmt unseren Alltag und große Unsicherheiten haben sich breitgemacht. Besonders bei Personen, die zuhause Familienangehörige mit schwersten Erkrankungen betreuen. Frau M. ist eine davon. Sie pflegt ihren Mann zuhause. Er ist zwei Jahre zuvor an ALS (amyotrophe Lateralsklerose) und frontotemporaler Demenz erkrankt. Er ist ein sehr angesehener Diplomphysiker. Gezeichnet von seiner Krankheit sitzt er auf einem „Bankerl“ hinter seinem Haus und der einzige Satz, der ihm über die Lippen kommt, ist: „Ich werde sterben!“. Ich betreue Familie M. seit einem Jahr und kam vor dem ersten „Lockdown“ zweimal pro Woche zur Physiotherapie vorbei. Über Telefon und Sprachnachrichten bleibt der Kontakt aber bestehen.

Spaziergang mit Handgepäck

Frau M. schaut so gut es geht auf sich, sie geht täglich eine halbe Stunde mit ihrem Hund, den sie liebevoll „Handgepäck“ nennt, weil er im Zug immer mit ihr mitfahren darf, spazieren. Diese Auszeit nutzt sie, um mir eine Sprachnachricht zu übermitteln. Ich sitze gerade im Auto und habe ausreichend Zeit, mir ihren Lagebericht in Ruhe anzuhören.

Die Tage werden kürzer!

„Ja, also bei uns, also außer meinem Mann, sind Gott sei Dank alle gesund. Meinem Mann geht es stetig sichtbar schlechter. Die Tage werden kürzer. Also die Zeit, in der er fähig ist, auf zu sein. Er kommt morgens, jetzt wird es schon halb zehn, die Treppe runter, freihändig wackelnd, obwohl der Tischler einen Handlauf montiert hat. Abends hinauf, was er jetzt schon um dreiviertel sieben will, da bin ich mit allen Abend-Zeremonien noch gar nicht fertig. Nur mit meiner Hilfe, sehr, sehr schwer. Ich stütze ihn links unter der Achsel, mit einer Pause am Podest. Oben steht auch ein Stuhl, er kann aber nach der Treppe fast nicht mehr vom Stuhl aufstehen. Rollator ist ja ein rotes Tuch, also habe ich kurzerhand mal den Bürostuhl dort hingestellt. Auf den Armlehnen abgestützt geht er dann mit dem Bürostuhl vorneweg ins Zimmer. 

Ist zwar wacklig, aber so krieg ich ihn dann wenigstens von der Treppe ins Schlafzimmer, ohne dass er aggressiv wird. Ich habe nicht aufgegeben und, so wie Sie sagten, immer wieder den Rollator angeboten. Eines Tages habe ich dann kurzen Prozess gemacht, einfach den Rollator nach oben gestellt und gesagt: Jetzt greifst hierher! Er war erschrocken, aber jetzt geht’s einigermaßen.“

Die übermittelten Worte von Frau M. zeigen deutlich, welche Herausforderungen der Alltag mit schwer kranken und sterbenden Menschen mit sich bringt und wie hilfreich eine Unterstützung durch die Physiotherapie sein kann. Abgesehen von der Symptomkontrolle mit nicht-medikamentösen Möglichkeiten, die an oberster Stelle steht, ist die Beratung und Begleitung der An- und Zugehörigen ein großes Aufgabengebiet in der häuslichen Palliativversorgung durch Physiotherapeut*innen.

Ich mach‘ jetzt Tag und Nacht allein!

„Ich habe die Betreuung komplett runtergefahren, nur mehr einmal am Freitag 2-3 Stunden mit der Heimkrankenhilfe Dani, mit der das Duschen einigermaßen funktioniert. Ja, wie gesagt, ich mach‘ jetzt Tag und Nacht allein, stell mir zweimal in der Nacht den Wecker und bin halt tagsüber ein bisserl reduzierter. Aber was ist mir lieber? Leute im Haus haben oder es läuft so. Da mein Mann jetzt nicht mehr wegläuft, geht es einigermaßen. Wir tasten uns jetzt langsam wieder an die Normalität heran und ich denke, in absehbarer Zeit werden auch Sie wieder kommen.“

Mit meiner Arbeit konnte ich dazu beitragen, dass Familie M. gut zuhause zurechtkam. Das war nicht nur den handelnden Personen ein Anliegen, meine Arbeit entlastet auch das ohnehin schon angespannte Gesundheitssystem. 

Herr M. ist ein Monat später, nach einem kurzen, dreitägigen Krankenhausaufenthalt, verstorben. Mit Frau M. verabredete ich mich ein halbes Jahr später zu einem Spaziergang im Wald, mit „Handgepäck“, ihrem Hund, der sie auch jetzt noch begleitet, wenn die Tage wieder länger werden ...

Dieser Artikel erschien 2022 im Blog von Hospiz Österreich: www.hospiz.at/blog/

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Cornelia Prasch, MSc

Koordinatorin des fachlichen Netzwerks Palliative Care und Onkologie

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2023|03

Bewegt-Magazin März 2023

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