Bewegungsentwicklung bei Säuglingen

Lass mir Zeit, zu wachsen

von Sabine Bachmaier

Immer mehr Babys bekommen Diagnosen wie Asymmetrie, KiSS-Syndrom oder Regulationsstörungen. Befundungen, die selbst noch in den Kinderschuhen stecken. Diese Diagnosen können – wie Lumbago oder Cervicalsyndrom – alles oder nichts bedeuten. Wichtig ist, diese Kinder früh genug professionell zu begleiten.

Seit vielen Jahren behandle ich als Physiotherapeutin Säuglinge. Oft werde ich gefragt, warum Kinder schon als Säuglinge physiotherapeutisch behandelt werden müssen. Die Antwort lautet: Weil als Säugling der Grundstein für die motorische, strukturelle und funktionelle Entwicklung gelegt wird. Es kann beeinflusst werden, ob ein Kind eine Skoliose entwickelt, innenrotiert geht oder unkoordinierte Bewegungen macht – und zwar im entscheidenden, motorisch stark geprägten ersten Lebensjahr. Bei Kindern mit Sinnesbeeinträchtigungen oder Behinderungen habe ich die Erfahrung gemacht, dass ihre neurologischen Muster sowie Entwicklungsverzögerungen sehr gut abgeschwächt bis aufgelöst werden können – aufgrund der frühen und gezielten Behandlung schon wenige Wochen nach der Geburt. Regulationsstörungen betreffen jedoch hauptsächlich gesunde Kinder. Diese werden als Säuglinge nicht automatisch physiotherapeutisch behandelt. Wenn sich im Gehirn Bewegungsmuster gefestigt haben, sind diese schwerer therapierbar.

 

Früh erkennen – früh behandeln

Es gibt Fehlstellungen, die mir in meiner täglichen Arbeit immer wieder begegnen. Hyftdysplasien und Fußdeformitäten wie Klumpfuß, Sichelfuß und Hackenfuß sehe ich sehr häufig. Das sogenannte KiSS-Syndrom (kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung) beschreibt die Fehlstellung der Halswirbelsäule. Betroffene Kinder sind zu einer Seite gebeugt und weisen oft Selbstregulierungsstörungen auf. Das Syndrom kann viele Ursachen haben, zum Beispiel eine gestörte Stellung der oberen Halswirbelsäule, Asymmetrie im Schädel, im Gesicht, bei den Augen oder eine Zwerchfelldysfunktion. Es können sich neurologische Thematiken hinter diesem Befund verbergen, die durch erfahrene, neuropädiatrisch ausgebildete Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen behandelt werden können. Ein Wettrennen mit der Zeit, denn im ersten Lebensjahr ist das Gehirn des Kindes ganz auf das Erlernen von Motorik ausgerichtet. In diesem Zeitfenster ist es möglich, falsche Bewegungsmuster zu hemmen.

Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt sind die frühkindlichen Reflexe. Wenn diese zu lange aktiv sind, sind Kinder in der Entwicklung ihrer Willkür-Motorik stark gehemmt.

Oft tauchen später Sprachentwicklungsprobleme oder Probleme im Spiel- und Lernverhalten auf. Es wird dann die Aufgabe von Logopäden und Logopädinnen und Ergotherapeutinnen und –therapeuten, Kinder im Bereich der Sprache und Handlungsfähigkeit weiter auf ihrem Weg zu unterstützen. Doch wenn bis dahin das – meistens vorhandene – Tonus-Problem (Spannungszustand einer Körperstruktur) gut behandelt wurde, werden diese Kinder nicht so lange in Therapie sein müssen. Handlungsfähigkeit und Sprache entwickeln sich nach der Motorik. Es ist wie bei einer Pyramide: Den unteren Baustein bildet die Motorik. Funktioniert sie, kann auf sie gebaut werden.

Bei einem Baby ist unklar, wie es sich motorisch entwickeln wird. Durch Erfahrung, genaue Beobachtung und exakte Befundung kann man das weitere Leben eines Kindes positiv beeinflussen. Der Umgang mit einem Baby, das Erkennen von Entwicklungsschüben sowie gegebenenfalls die richtige Auswahl von Gehhilfen, Orthesen und später der Schuhe sind wichtige Bestandteile in der physiotherapeutischen Beratung. Physiotherapie bei Babys ist bedeutungsvoll und weitreichend für die Entwicklung eines heranwachsenden Menschen. Sie fördert ihn strukturell, funktionell und seelisch.

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Sabine Bachmaier

Physiotherapeutin mit Schwerpunkt Pädiatrie

Aus der Ausgabe

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2020|03

Bewegt-Magazin März 2020

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