Gute Haltung - schlechte Haltung

Text: Julian Josef Edlhaimb, BSc, MSc, OMPT

Wirkung und Wechselwirkung der Körperhaltung auf den Bewegungsapparat und der mentalen Haltung des Menschen in seiner individuellen Lebenswelt.

Die körperliche und leibliche Haltung und Belastung spiegeln sich in der deutschen Sprache und in der soziokulturellen Lebenshaltung wider. In emotionaler Begleitung wird positiv die gerade, offene Haltung, das „Rückgrat-Zeigen“ oder der aufrechte Gang beschrieben. Häufig jedoch wird die negative Bewertung in Ausdrücken sichtbar wie in der schlampigen, krummen Haltung, der Fehlhaltung, dem „Buckeln“ oder dem „Kopf-Hängen-Lassen“.

In Zeiten des Home-Office ist das Fachpersonal der Gesundheitsberufe mit Patient*innen konfrontiert, deren körperlich-leibliche Beschwerden auf behelfsmäßig eingerichtete Arbeitsplätze zurückzuführen sind. Häufig werden arbeitsabhängige Belastungen beurteilt nach statischer Haltung, dynamischen Tätigkeiten, wie Heben und Tragen hoher Lasten, und sich wiederholenden Bewegungsabläufen.

 

Monotonie von Bewegungsabläufen

Die genannten Risikofaktoren sind in dem biomechanischen Teilbereich des physiotherapeutischen Prozesses in den Blick zu nehmen. Die Tücke dieser belastenden Situation liegt in der Monotonie der Bewegungsabläufe, wobei Betroffene oft intuitiv

eine ausgleichende Bewegung ausführen. Wird beispielweise über einen längeren Zeitraum eine gebeugte Körperhaltung eingenommen und dies verursacht Beschwerden, kann selbstregulativ die Gegenbewegung in eine gestreckte Richtung erfolgen. Wird diese kontrolliert repetitiv durchgeführt, ist eine Besserung etwaig entstandener Symptome möglich und als prophylaktische Ausgleichsübung geeignet.

Neben gegenläufigen Bewegungsmustern ist die Fitness des Menschen ein wichtiger Aspekt in der Schmerzwahrnehmung. So stellt regelmäßige körperliche Aktivität, und hier ist niederschwellig schon ein täglicher Spaziergang von dreißig Minuten gemeint, eine effektive Strategie zur Prävention und Therapie arbeitsabhängiger Beschwerden dar.

Abseits der biomechanischen Entstehung von Sypmptomen umfasst die physiotherapeutische Betrachtungsweise in einem Bio-Psycho-Sozio-Ökologischen Modell ergänzend psychische Belastungen sowie Einflüsse der sozialen und ökologischen Lebenswelt des Menschen. Die aktuelle Literatur hebt jene Bereiche besonders hervor und attestiert eine rein biomechanische Herangehensweise als unzureichend. Folglich sind psychomentale Belastungen, in privatem Bereich oder als Arbeitsatmosphäre, hierarchischer Druck und angespanntes Beziehungsklima im Team, relevante Risikofaktoren bei der Entstehung klinischer Beschwerden.

 

Multiprofessionelles Behandlungskonzept

Bleiben Symptome am Bewegungsapparat trotz eigenem Bewegungsmanagement bestehen, ist ein multiprofessionelles Behandlungskonzept von Medizin, Physiotherapie und Psychotherapie anzuraten. Mit einem berufsübergreifenden Therapieangebot wird von linearkausalem Ursache-Wirkung-Denken abgerückt und das Gesamtgeschehen in seiner Vielartigkeit begriffen. Das derzeitige Verständnis vom Menschen in dem Zusammenspiel von Körper, Psyche und Geist in seiner sozialen und ökologischen Lebenswelt ist im physiotherapeutischen Behandlungsweg längst verankert. Das sich hier bedingende Gemeinsame mit den vielfältigen Einflüssen auf den menschlichen Körper zu sehen, wird immer noch durch altgediente Denkmodelle aus der Physik und Mechanik behindert.

Im 17. Jahrhundert entwickelt René Descartes eine mechanistische Physiologie und vergleicht den Körper des Menschen mit einer Maschine. Aktuelle neurophysiologische Erkenntnisse widersprechen diesem Ursache-Wirkung-Prinzip und beachten weitere Einflussfaktoren. Die detailreiche neurophysiologische Erforschung der Schmerzwahrnehmung trägt dazu bei, körperliche Beschwerden nicht ausschließlich mechanisch zu erklären. Entgegen besseren medizinischen Wissens sind dennoch diagnostische Erklärungsversuche zu finden, welche anhand bildgebender Verfahren rein strukturelle Veränderungen als Quelle von Symptomen beschreiben.

Die qualitätsgesicherte Physiotherapie stützt sich in ständigem Neuüberdenken auf klinische Diagnostik, physiotherapeutische Denkvorgänge, Handlungen und Entscheidungen. Diese wissenschaftliche Orientierung ist in dem Begriff des Clinical Reasoning verankert. Die Wirkung und Wechselwirkung der Körperhaltung auf den Bewegungsapparat und der mentalen Haltung des Menschen in seiner individuellen Lebenswelt in den Blick zu nehmen, erfordert eben diese Gesamtsicht in einer physiotherapeutischen Behandlung.

Aus der Ausgabe

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2022|12

Bewegt-Magazin Dezember 2022

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