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physio
austria
inform
Dezember 2014
Themenschwerpunkt
Komplementäre Behandlungsmethoden in der Physiotherapie
Ganzheitlich – was ist das?
Mit einem ganzheitlichen Ansatz geht die Berück-
sichtigung der Lebensumstände, aber auch der
Persönlichkeit der PatientInnen einher. Im Zentrum
steht der Mensch in seiner Leiblichkeit: man hat
keinen Körper, sondern man ist dieser Körper. Be-
deutung und Erfahrung können nicht vom physio-
logischen Geschehen getrennt werden. Daher
werden Beschwerden und Krankheiten weiterge-
fasst, sie sagen etwas über den leidenden Men-
schen als Ganzes aus und in diesem Leib sind
Erfahrungen gespeichert. Umgesetzt wird dieser
Ansatz, der sich von der klassischen Körper/Geist
Trennung unterscheidet, häufig sehr pragmatisch,
indem z.B. bestimmten Körperzonen oder Wirbeln
andere Körperbereiche bzw. Organe oder Emotio-
nen bzw. Eigenschaften zugeordnet werden. Oft
werden bekannte Metaphern bedient, so sollen
Probleme im Bereich der Halswirbelsäule mit Hals-
starrigkeit und Unnachgiebigkeit zusammenhän-
gen, Probleme im Brustwirbelbereich ihren
Ursprung in mangelndem Selbstbewusstsein
haben und Beschwerden im Lendenwirbelbereich
mit Ängsten aller Art in Verbindung stehen (Koch,
Steinhauser 2001). Dorn und Flemming geben an,
dass in unserer Wirbelsäule Emotionen gespei-
chert seien. Aus diesem Grunde komme es bei
Behandlungen der Wirbelsäule immer wieder vor,
dass Behandelte in Tränen ausbrechen oder Erin-
nerungen aus der Kindheit wiederkehren. Der
Zusammenhang zwischen körperlichem Ausdruck
und Emotionen spiegelt sich auch in der Haltung
eines Menschen. Ist man traurig, so lässt man
sprichwörtlich den Kopf und die Schultern hängen
und glückliche, zufriedene Menschen haben eine
aufrechte Haltung und einen erhobenen Kopf
(Dorn, Flemming 2003). Daher behaupten viele
AnwenderInnen verschiedener körperbezogener,
komplementärer Therapien nicht nur den körperli-
chen Zustand, sondern auch den Charakter oder
momentanen Gemütszustand eines Menschen von
außen beurteilen zu können. An dieser Stelle sei
allerdings vor voreiligen Schlüssen oder gar wer-
tenden Aussagen gewarnt! Typologien, deren
Merkmale das (angeborene) Aussehen von Men-
schen mit Charaktereigenschaften verbinden, sind
nicht nur als Diagnoseinstrumente ungeeignet, sie
bergen auch die Gefahr der Diskriminierung. Die
Geschichte der Physiognomik, die bereits im 19.
Jahrhundert entwickelt wurde und so abstruse Er-
scheinungen wie Plakate mit typischen Gesichtern
Krimineller hervorbrachte und rassistischen Theo-
rien zugrunde lag, lässt sich leider bis heute verfol-
gen.
Körperpsychotherapie oder Körpertherapie?
Dass sich der Körper erinnert und möglicherweise
längst vergessene aber dennoch belastende Erfah-
rungen über eine Berührung wieder an die Oberflä-
che gebracht werden können, das ist wohl vielen
TherapeutInnen in ihrer Praxis schon begegnet.
Komplementäre Angebote, die am Körper anset-
zen, sehen oft eine Wechselwirkung und Gleichzei-
tigkeit der physischen und psychischen Anteile
eines Menschen. Ob von Körperpsychotherapie
oder Körpertherapie die Rede ist, hängt in der
Regel von den anwendenden Berufsgruppen und
ihren Kompetenzen ab. So gibt es die Tendenz von
Körperpsychotherapie zu sprechen, wenn der oder
die AnwenderIn PsychotherapeutIn ist, während
der Begriff Körpertherapie eher von Physiothera-
peutInnen verwendet wird. Dementsprechend ist
auch die Gewichtung des einen oder anderen As-
pekts verteilt. An den begrifflichen Schwierigkei-
ten wird allerdings deutlich wie schwierig der
Anspruch ganzheitlich zu arbeiten in unserem frag-
mentierten und spezialisierten Gesundheitssystem
eigentlich ist.
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