Mag. Dr. Michaela
Noseck-Licul
ist Medizinanthropologin
und Leiterin des Doku-
mentationszentrums für
traditionelle und komple-
mentäre Heilmethoden
in Wien. V
o
n 2007 bis 2010
führte sie eine Erhebung
traditioneller und komple-
mentärer Heilmethoden in
Österreich im Auftrag des
Bundesministeriums für
Gesundheit und der UNIQ
A
V
e
rsicherung durch.
Ihr Interesse gilt der tradi-
tionellen europäischen
Heilkunde sowie der Wirk-
samkeitsforschung und
Qualitätssicherung in der
Komplementärmedizin.
Was zur Komplementärmedizin zählt und was
Teil der etablierten Methoden in der Medizin
und den Gesundheitsberufen ist, ist von Land
zu Land verschieden. In Österreich sind
komplementäre Heilmethoden auch daran zu
erkennen, dass sie nicht von den Kranken-
kassen übernommen werden, da sie andere
Ansätze verfolgen und oft keine ausreichen-
den Wirksamkeitsnachweise nach Evidence
Based Standards existieren. Das hat unter
anderem mit einem Menschenbild und Kör-
perkonzept zu tun, das vom Menschen als
biopsychosoziokulturelle Einheit ausgeht.
Diesen Aspekten der Komplementärmedizin
widmet sich die Medizinanthropologie.
Rückblick
Was heute innovativ und neu in der Komple-
mentärmedizin erscheint, hat meist eine
Vorgeschichte, eine Tradition, auf der die
Methode beruht. So ist es auch bei den Tech-
niken zur Wiederherstellung oder dem Erhalt
der Gesundheit rund um den Bewegungs-
apparat. Ihre BegründerInnen beziehen sich
in der Regel auf das Wissen traditioneller
Knocheneinrichter, Knocheneinrenker oder
„bone setters“, die Berufen wie der heutigen
Physiotherapie historisch vorangehen, auch
wenn die Aufgabengebiete heute andere
sind. Manuelle Verfahren und das Handwerk
des Knocheneinrichtens, also der Behandlung
von Frakturen, Wirbelsäulen- und Gelenkspro-
blemen durch besondere Grifftechniken, ist in
unterschiedlichen Formen aus zahlreichen
Kulturen weltweit bekannt. Die ältesten
Nachweise finden sich in den Schriften
Hippokrates’, der beschrieb, wie Brüche
einzurichten und leichte Wirbelsäulenfehl-
stellungen zurechtzurücken seien. Allerdings
ist davon auszugehen, dass das Wissen um
die Korrektur von Wirbelsäulenfehlstellung
zu Hippokrates’ Zeiten (460 – 375 v. Chr.)
bereits weit verbreitet war. Auch im altägypti-
schen Papyrus Edwin Smith, einem der
ältesten medizinischen Papyri, der aus der
12. Dynastie (~19. Jh. v. Chr.) stammt, finden
sich Anweisungen zum Einrichten eines
Schlüsselbeinbruchs.
In Europa erlangten die Knocheneinrichter,
Knocheneinrenker, Gliedersetzer, Beinrichter
oder Boandlrichter im Mittelalter und in der
frühen Neuzeit große Bedeutung. Sie gehör-
ten neben Badern und Kräuterfrauen zur
Gruppe der Laienmediziner, die dort zum
Einsatz kamen, wo es an ÄrztInnen fehlte.
Vom Boandlrichter zur
Komplementärtherapie
Traditionelle Heilmethoden
am Bewegungsapparat im Wandel der Zeit
Mit einem ganzheitlichen Ansatz geht die Berücksichtigung
der Lebensumstände, aber auch der Persönlichkeit der
PatientInnen einher. Im Zentrum steht der Mensch.
Themenschwerpunkt
Komplementäre Behandlungsmethoden in der Physiotherapie
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physio
austria
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