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Dezember 2012
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UROLOGIE
Markus Martin
Der Mann unter Druck
Abakterielle Prostatitis/chronisches
Beckenschmerzsyndrom (CBSS)
Die abakterielle Prostatitis, auch Prostatitis Kategorie III
genannt, wird in den letzten Jahren vermehrt mit dem
Begriff chronisches Beckenschmerzsyndrom (CBSS –
engl. Chronic pelvic pain syndrom CPPS) bezeichnet.
Die neueren Erkenntnisse lassen vermuten, dass man die
Beschwerden nicht auf die Prostata allein zurückführen
kann, sondern es sich um ein weit komplexeres Bild
handelt. Die Symptome sind vielfältig: Schmerzen in
Damm, Hoden, Penis oder Unterbauch. Sie treten
verstärkt auf bei der Miktion oder Ejakulation, unter
Umständen auch beim Sitzen auf harter Unterlage, bei
manch einem aber auch in Ruhe. Ferner gibt es Symp-
tome einer überaktiven Blase wie Pollakisurie (= ver-
mehrter Harndrang) sowie Restharngefühl. Obwohl per
definitionem keine Erreger nachweisbar sind, ist die
urologische Therapie der Wahl die Gabe von Antibiotika.
Dieses Vorgehen ist sehr umstritten, doch weisen ein-
zelne Studien auf Verbesserungen hin – angenommen
wird, dass das Geschehen auf eine ursprüngliche Entzün-
dung zurückzuführen sei. Ferner kommen vielfach NSAR,
Schmerzmittel, Muskelrelaxanzien oder Psychopharmaka
zum Einsatz. In der großen Metaanalyse von B.A. Erick-
son et al, USA 2008 konnten weder für die medikamen-
töse oder operative Therapie noch für die Maßnahmen
der physikalischen Therapie eine nennenswerte Evidenz
aufgefunden werden.
Was können wir tun?
Zur Anamnese dient am besten der valide standardisierte
Fragebogen »Chronische Prostatitis Symptom Index«
(NIH-CPSI). Damit erhalten wir einen Überblick über die
Symptome, aber auch eine Überprüfungsgrundlage für
unsere Therapie. Bei der Untersuchung ist es wichtig,
Beweglichkeit und Spannungsverhältnisse im Bauch-
Becken-Bein-Bereich zu untersuchen. Am Abdomen
(manchmal sogar im pectoralen Bereich) können sich
schon Tonuserhöhungen finden. Ferner sind die Hüftge-
lenke, insbesondere bzgl. M. iliopsoas, M. obturatorius
internus, M. glutaeus maximus und M. pectineus zu un-
tersuchen. Schließlich der M. levator ani, der meist auch
schmerzhafte Stellen aufweist.
Therapeutische Intervention
Alle Geweberestriktionen und hypertonen Zustände sind
zu reduzieren: Massagen, Dehnungen, Manualtechniken
kommen zum Einsatz. Umstritten ist die in früheren Jah-
ren viel praktizierte Prostatamassage – der Physiothera-
peut J.P. Barral empfiehlt diese Methode, bei der der
Patient in Bauchlage von rektal sanft mobilisiert wird –,
sie muss aber durch die Arbeit am gesamten Becken-
boden ergänzt werden. Die Triggerpunkt-Behandlung des
Beckenbodens weist in einigen – leider noch nicht mit
hoher Qualität durchgeführten – Studien Erfolge auf:
Vom Rektum als auch von außen sind die schmerzhaften
Verhärtungen der M. levator ani-Stränge aufzusuchen
und mindestens für 90 Sekunden auf Druck zu bear-
beiten. Hier tritt dann in der Regel ein »Wohl-weh-
Gefühl« auf. Wichtig ist es, danach für mindestens
zehn Minuten dehnende Techniken für das Gewebe
durchzuführen und es mit entsprechenden Atem-
aktionen unterstützen zu lassen.
Physikalische Maßnahmen
Die Effektivität von Wärmeanwendungen (Bestrahlung
oder Sauna) ist genauso wenig belegt wie Elektro-
therapie. Einzig das Biofeedbackverfahren zur
bewussten Spannungsreduktion lässt in nicht-rando-
misierten Studien geringer Fallzahl Wirksamkeit
erwarten und sollte daher auch zum Einsatz kommen.
Beratung und Anleitung
Der Patient muss von der ersten Sitzung an Lösungs-
übungen an die Hand bekommen, zur konsequenten
täglichen Durchführung: Lagerungen, Dehnungen
oder auch Übungen der Antagonistentechnik; gegebe-
nenfalls auch Anleitung zur eigenen manuellen Lösung
von Verspannungen wie das Sitzen auf den Finger-
kuppen medial der Sitzbeinhöcker oder auf einem
(anfangs weichen) faustgroßen Ball. Ganz wichtig ist
es, entspannende Atemtechniken für den Becken-
boden zu vermitteln, um den hohen Grundtonus zu
senken. Nicht minder wichtig ist es, den Patienten
aufzuklären: Eventuelle Tendenzen zum Pressen bei
der Miktion oder beim Stuhlgang müssen angespro-
chen werden. Die Trinkmenge muss ausreichend
(circa 1,5 – 2 l) trotz eventueller Drangbeschwerden
beibehalten werden. Zum Sport ist eher anzuraten,
wobei Radsport aufgrund der damit einhergehenden
Minderdurchblutung eher kritisch einzuschätzen ist
(zumindest ein Damm-entlastender Sattel sollte mon-
tiert werden, wenn es schon sein muss!). Ausdauer-
und elastizitätsfördernde Bewegungsarten sind gene-
rell den Kraft- oder ehrgeizigen ergebnisorientierten
Sportarten vorzuziehen.
Dem Mann den Druck nehmen
Es sind so vielfältige Ursachen und entsprechend
therapeutische Zugänge, die die Behandlung des von
CBSS-Geplagten zu einer Herausforderung machen.
Die große Dankbarkeit, die die Männer einem für jede
Linderung dieser scheinbar unbeeinflussbaren Be-
schwerden entgegenbringen, muss Ansporn für jeden
von uns auf diesem Gebiet Arbeitenden sein.
Circa 5 bis 10 Prozent der Männer sind vom chronischen Becken-
schmerz betroffen. Aufgrund der unklaren Ätiologie ist es häufig
ein langer Leidensweg, den die Betroffenen hinter sich haben, wenn
sie in der physiotherapeutischen Praxis erscheinen.
Wie kann Physiotherapie helfen?
Markus Martin
Physiotherapeut seit 1982, seit 1996 in ei-
gener Praxis, seit 2006 in Wien Entwickler
der Methode »BM Balance – Moderne
Prävention und Rehabilitation für Blase,
Beckenboden und Prostata« Seit 1994
Lehrtätigkeit verschiedener Fortbildungs-
kurse, Mitglied Fachgruppe UPGG
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