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Dezember 2012
21
Boden für die Entstehung der Naturwissenschaften bereitet.
Descartes’ Verständnis von der Trennung von Körper und
Geist hatte in der Folge zwar auch verheerende Folgen für das
Weltbild des Menschen, und dadurch konnte sich eine Sicht
etablieren, in der sich der Mensch von der Natur als getrennt
erlebt. Ein lineares, monokausales Weltbild entstand, in dem
bis heute das Paradigma einer Welt gilt, die wie eine große
Maschine funktioniert, die von lauter einzelnen, konkurrieren-
den Menschen bevölkert wird, die außerhalb ihrer natürlichen
Mitwelt stehen und in einem sinnlosen Universum nach per-
sönlichem Reichtum streben. Es ist ein mechanistisches und
reduktionistisches Weltbild, das wie eine kulturelle Gehirn-
wäsche wirkt und bis heute auch noch die Sicht vieler Wissen-
schaftlerInnen prägt.
Aus der Systemtheorie wissen wir mittlerweile, dass ein le-
bendiges System immer mehrschichtig arbeitet, aber das
muss nicht immer hierarchisch organisiert sein. Auch neueste
Forschungen unser Gehirn betreffend bestätigen genau dies
und haben unsere therapeutischen Ansätze zum Beispiel in
der Neurologie oder hinsichtlich des Bewegungslernens in den
letzten zehn Jahren massiv verändert. Im Extrem entsteht aus
der mechanistischen Sicht ein Egoismus, der nicht auf Umge-
bungssysteme achtet und zu einer Art Krebs für das größere
System mutiert, weil er nur für sich selbst wächst. In der
Euphorie des erfolgreichen und glorreichen Aufschwungs des
rationalen Denkens nach der Aufklärung war die Wissenschaft
ein mächtiges Instrument, um sich gegen jegliche Bevormun-
dung durch traditionelle Mächte zu wehren. Die Wissenschaft-
lerInnen schienen nun endlich die Menschen zu sein, die
berechtigt waren, kompetent über das wirklich Wahre zu
sprechen. Heute wandelt sich der Blick der Wissenschaft
allmählich, und vieles, was asiatische Religionen schon vor
Tausenden von Jahren als allgemeingültig erkannten und
respektierten, bestätigen mittlerweile auch westliche
Forschungsergebnisse.
Im Gegensatz dazu hat sich der konservative Islam kaum von
der Stelle gerührt. Er hat die Weltsicht der Araber des 7. Jahr-
hunderts konserviert, Denkweisen, die zu ihrer Zeit fortschritt-
lich waren, aber heute tausend Jahre zurück sind. Ein
gewisses Maß an Geschlechterdiskriminierung bejaht der
Koran ausdrücklich: Die Zeugenaussage einer Frau zählt nur
halb so viel wie die eines Mannes, eine Tochter erbt nur halb
so viel wie ein Sohn. Wenn Vorschriften dieser Art in der Bibel
auftauchen, gehen Christen und Juden meist achselzuckend
darüber hinweg. Für fromme Muslime ist es sehr viel schwieri-
ger, unangenehme und antiquierte Passagen des Korans zu
ignorieren, weil der Koran für sie nicht bloß göttlich inspiriert,
sondern im unmittelbarsten Sinn das Wort Gottes ist.
Dies soll aber nicht den Eindruck erwecken, dass andere Reli-
gionen um so viel besser wären, was die Achtung und Stellung
von Frauen angeht, so gut wie jede Religion ist patriarchalisch
gefärbt und unterdrückt Frauen: Im tibetischen Buddhismus,
im Vajrayana, einer Richtung des Buddhismus, die als beson-
ders gleichberechtigt gilt, lautet die wortwörtliche Überset-
zung für »Frau« auch heute noch »niedere Geburt«, was eine
biologische und auch spirituelle Zweitrangigkeit von Frauen
innerhalb der Gesellschaft mit all ihren Folgen bewirkt und
Frauen oft heute noch in mittelalterlichen Zuständen leben
lässt. Nicht anders im Hinduismus: Auch dort ist das Bild einer
opferbereiten Frau die Idealvorstellung, eine ihrer Hauptauf-
gaben besteht in der Mutterschaft, und der Mann gilt als das
Oberhaupt der Familie. Frauen und Mädchen dieser Welt
leiden nach wie vor an sozialer, spiritueller und religiöser
Diskriminierung, und diese äußert sich mitunter auch in
schlechterer medizinischer Versorgung und erhöhter Sterb-
lichkeit. Es gibt also noch eine Menge zu tun.
DIVERSITY
Andrea Sturm, MAS
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