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Dezember 2012
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DIVERSITY
Andrea Sturm, MAS
Ein ähnliches Muster zeigt sich in anderen Ländern, be-
sonders in Südasien und in der muslimischen Welt. In In-
dien findet etwa alle zwei Stunden eine
»Brautverbrennung« statt – um die Braut für eine unzu-
längliche Mitgift zu bestrafen oder um sie aus dem Weg
zu räumen, damit der Mann neu heiraten kann. Religiöse
Diskriminierung von Frauen über Jahrhunderte ist für
diese Missstände bis heute mitverantwortlich.
Anfang der 1990er Jahre begannen die Vereinten Natio-
nen und die Weltbank, dem Potenzial an Ressourcen,
das Frauen und Mädchen bieten, größere Bedeutung
beizumessen. »Investitionen in die Bildung von Mädchen
dürften wohl die ertragreichsten sein, die in Entwick-
lungsgebieten überhaupt machbar sind«, schrieb
Lawrence Summers in seiner Eigenschaft als Cheföko-
nom der Weltbank. »Die Frage ist nicht, ob Länder sich
diese Investition leisten können, sondern ob sie es sich
leisten können, nicht mehr Mädchen auszubilden.«
In einer einflussreichen Studie, die 2001 unter dem Titel
»Engendering Development Through Gender Equality in
Rights, Resources and Voice« von der Weltbank vorgelegt
wurde, heißt es, die Förderung der Geschlechtergleich-
heit sei entscheidend für die globale Armutsbekämpfung,
und das Kinderhilfswerk UNICEF betonte, die Gleichstel-
lung der Geschlechter werfe eine »doppelte Dividende«
ab, da jede Bildung für Frauen zugleich Bildung für deren
Kinder und Gemeinschaften bedeute. Das Entwicklungs-
programm der Vereinten Nationen (UNDP) zog aus den
sich mehrenden Forschungsergebnissen die Quintes-
senz: »Durch eine gestärkte Stellung der Frauen können
Wirtschaftsproduktivität gesteigert und die Kinder-
sterblichkeit verringert werden. Sie trägt zu besserer
Gesundheit und Ernährung bei. Und sie erhöht die
Bildungschancen für die nächste Generation.«
In großen Teilen der Welt sterben Frauen, weil man sie für
entbehrlich hält. Es besteht eine hochgradige Korrelation
zwischen Ländern, in denen Frauen gering geschätzt wer-
den, und Ländern mit hoher Müttersterblichkeit. Immer-
hin gab es auch in den Vereinigten Staaten das ganze
19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein eine sehr hohe
Müttersterblichkeit. In den Jahren des Ersten Weltkriegs
starben mehr amerikanische Frauen im Wochenbett
als amerikanische Männer an der Front. Doch dann,
zwischen 1920 und 1940, sank die Müttersterblichkeit in
den USA ganz erheblich – offensichtlich weil eine Gesell-
schaft, die den Frauen das Wahlrecht zugestand, plötzlich
auch den politischen Willen aufbrachte, Mittel für die
Müttergesundheit bereitzustellen. Als die Frauen sich das
Wahlrecht erkämpft hatten, bekam ihr Leben unvermittelt
einen höheren Wert – das Frauenwahlrecht hatte die
epochale und unerwartete Folge, der Frauengesundheit
einen Schub nach vorne zu bescheren.
In Europa wurden erste Stimmen nach politischer Partizi-
pation von Frauen während der Französischen Revolution
laut, auch während der Revolutionen von 1831 und 1848
forderten Französinnen ihr Recht zu wählen; in Großbri-
tannien wurde die erste Petition für das Frauenwahlrecht
1832 eingebracht. Davon abgesehen waren es die skan-
dinavischen Staaten, in denen Frauen relativ früh in den
1880er Jahren ihren Anspruch auf politische Rechte pro-
klamierten. Dagegen gab es in Mitteleuropa die ersten
Forderungen nach 1900 und in einigen mediterranen
Ländern erst nach dem Ersten Weltkrieg. (Einführung des
aktiven Wahlrechts für Frauen in Europa erstmals 1906 in
Finnland, in Österreich 1918, in der Türkei 1930, in Frank-
reich 1945, in der Schweiz bundesweit 1971!)
»Die Müttersterblichkeit in den Entwicklungsländern
ist oft das letztendliche und tragische Resultat einer
kumulativen Missachtung der Menschenrechte der Frau«,
konstatierte die Zeitschrift Clinical Obstetrics and Gyne-
cology. »Frauen sterben nicht, weil sie an unheilbaren
Krankheiten leiden. Sie sterben, weil Gesellschaften sich
immer noch nicht zu der Erkenntnis durchgerungen
haben, dass Frauen es wert sind, ihr Leben zu erhalten.«
In meiner eigenen buddhistischen Forschungsarbeit
zeigte sich, dass das Leben einer Frau und ihre Weiblich-
keit von Männern als etwas »Unkontrollierbares« wahrge-
nommen werden. Dazu gehören auch Phänomene wie
Geburt, Tod, Leiden, Schmerz. Und etwas, worüber man
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