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Dezember 2012
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GRUNDLAGENFORSCHUNG
ao. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Marcela Hermann
Der männliche Körper wurde lange Zeit als
die Norm, der weibliche hingegen nur als
Normvariante betrachtet. Dabei unterschei-
den sich Frauen und Männer nicht nur in
ihrer Statur voneinander, sondern zum
Beispiel auch in der Ausprägung von Krank-
heitssymptomen und in ihrer Reaktion auf
Medikamente. Weil Frauen hormonellen
Schwankungen unterworfen sind sowie
schwanger werden können, wurden sie
aus klinischen Tests meist ausgeschlossen
oder waren unterrepräsentiert.
In den letzten Jahren ist jedoch eine ge-
schlechtsspezifische Betrachtungsweise der
Gesundheit von Frauen und Männern ein
integrativer Bestandteil der Medizin gewor-
den. Die Entwicklung des fachlichen Diskur-
ses spiegelt sich u. a. in der Gründung von
Fachgesellschaften (wie ÖGGSM – Öster-
reichische Gesellschaft für geschlechts-
spezifische Medizin), spezifischen Lehr-
veranstaltungen im Medizinstudium, der
Etablierung des Lehrstuhls für Gender-
Medizin etc. wider. Die Beachtung ge-
schlechtsspezifischer Unterschiede ist aber
nicht nur ein seit den 1990er Jahren aufge-
kommener Trend in Zusammenhang mit
neuen Forschungsergebnissen und gesell-
schaftlichen Prozessen. So stehen der
Meinung mancher, geschlechtsspezifische
Medizin sei eine Modeerscheinung, Beispiele
im Rahmen einer tieferen Beschäftigung
mit Medizingeschichte entgegen.
Schon vor über 500 Jahren formulierte
Paracelsus seine Gedanken über ge-
schlechtsspezifische Unterschiede in der
medizinischen Behandlung:
»Die Medizin lässt sich nicht auf beide
Geschöpfe gleich anwenden. Mit dem Mund
kann man das vielleicht, aber nicht mit der
Tat. Es gibt ja nur deshalb männliche und
weibliche Kräuter in der Welt, weil es auch
weibliche und männliche Krankheiten gibt.
Man verschreibe also den Männern männli-
che Arzneien, den Frauen Arzneien, die
ihrer Anatomie nach weiblich sind.«
Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei
offensichtlich um anatomische Unterschiede
handelt. Immer mehr Studien zeigen, dass
geschlechtsspezifische Unterschiede nicht
auf die Fortpflanzungsorgane reduziert
werden können. Der aktuelle geschlechts-
spezifische Fokus verlangt daher eine ent-
sprechende Einbeziehung des Themas in die
medizinische Grundlagenforschung. In dieser
werden Untersuchungen, die am Menschen
direkt nicht möglich sind, an Modellen, die
den bekannten humanen Aspekten entspre-
chen, durchgeführt, vor allem an Versuchstie-
ren (überwiegend Mäusen) und Zellkulturen.
Aber wie geschlechtsbewusst sind die Versu-
che in der biomedizinischen Forschung?
Medikamente beispielsweise werden im
Labor entwickelt und an Tieren (Labormäu-
sen) getestet, bevor eine Versuchsreihe mit
freiwilligen ProbandInnenen durchgeführt
wird. Die überwiegende Zahl der Labormäuse
ist männlich, die überwiegende Zahl der
Versuchspersonen ist gleichfalls männlich –
obwohl es mittlerweile genügend Hinweise
darauf gibt, dass die Wirkung nicht immer
bei beiden Geschlechtern gleich ist.
Geschlechtsspezifische
Unterschiede in der
Grundlagenforschung
Schon seit gut 500 Jahren ist die Genderproblematik in der
Medizin bekannt. Es scheint, als sei sie in den letzten Jahren
auch im Bewusstsein der Forscherinnen und Forscher
angekommen. Ein kurzer Überblick.
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