6
physio
austria
inform
Dezember 2012
Im April 2012 erschien das Buch »Gender –
Unterschiede in der Orthopädie« (Scheipl,
Rásky (Hgg.), Facultas Verlag). Das Buch
kann als Resultat einer hervorragenden
interdisziplinären Zusammenarbeit gewertet
werden. Es stellt eine Sammlung von Bei-
trägen mehrerer KoautorInnen dar, die sich
mit diesem aktuellen Thema in unterschied-
lichen Fachgebieten auseinandergesetzt
haben. Hier wird jener Ausschnitt des
Buches, der sich auf die Physiotherapie
bezieht, in angepasster Zusammenfassung
präsentiert.
Einblick
Die Physiotherapie ist die professionelle
Auseinandersetzung mit der Bewegung und
mit dem Bewegungssystem des Menschen
unter Berücksichtigung der Bewegungsquali-
tät und baut auf wissenschaftlich fundierten
Erkenntnissen auf. Physiotherapie bedeutet,
Bewegung lernen und Bewegung lehren.
Der Therapieablauf wird individuell gestaltet,
wobei nicht nur das Bewegungssystem, son-
dern auch die bio- und psychosoziale und die
kognitive Ebene erfasst werden. Die Physio-
therapie ist heute ein wichtiger Bestandteil
der Medizin, sie ist in der Behandlung der
PatientInnen in diversen Fachbereichen nicht
wegzudenken. Das oberste Ziel der Physio-
therapie ist die Wiederherstellung des natür-
lichen Bewegungsablaufs und der Funktion,
eine Minderung des subjektiven Schmerz-
bilds und die Erlangung der Selbständigkeit.
Die/der PhysiotherapeutIn und die/der
PatientIn stehen in einer Wechselbeziehung,
es wird gehandelt beziehungsweise behan-
delt. In der therapeutischen Interaktion sind
viele Faktoren wichtig, wie etwa die Grund-
sätze einer positiven Kommunikation, das
Erleben des subjektiven Schmerzbilds,
kulturelle und biologische Gegebenheiten
sowie der Erfolg vorangegangener Behand-
lungen und die momentane Erwartung
der/des PatientIn. Um in der therapeuti-
schen Situation vertrauenerweckend,
erfolgversprechend und korrekt handeln
zu können, ist eine gute interdisziplinäre
Zusammenarbeit Voraussetzung.
Nach einer Befundaufnahme ist das Ziel der Therapie
individuell zu setzen. Dabei ist es von Vorteil, Hinter-
grundwissen über genderspezifische Erkenntnisse in
der Medizin zu haben. Etwa Unterschiede in Schmerz-
empfinden, Prädisposition für eine Depression, eine
hormonbedingte und biologische Differenz bei Funk-
tion und Aufbau der Knochen und Muskeln sowie die
etwaige anteilsmäßige prozentuelle geschlechtsspezi-
fische Aufteilung bei einigen Krankheiten.
Die Bedeutung des Geschlechts als Einflussfaktor
auf das physiotherapeutische Behandlungsergebnis
wurde noch nicht untersucht, in der letzten Zeit gibt
es jedoch Arbeiten, die sich diesem Thema näherten.
So untersuchte Kordes (2011) den Einfluss einer
manualtherapeutischen Technik an der HWS auf die
Ellbogenextension im Upper Limb Neurodynamic Test
an asymptomatischen Probanden. Explorativ wurde
der Einfluss des Geschlechts auf die Änderungen in
der Extension betrachtet.
Der Wert der geschlechtsspezifischen Ergebnisanalyse
ergab eine Signifikanz von 0,03. Der signifikante Un-
terschied zwischen den Geschlechtern ist erstaunlich.
Männliche Probanden reagierten besser auf die tat-
sächliche Intervention, weibliche ProbandIinnen dage-
gen reagierten besser auf die Placebobehandlung. Als
Ursache für ein solches Resultat könnten diverse psy-
chosoziale Faktoren, die individuelle Reaktion auf die
Placebobehandlung sowie die Erwartungshaltung sein.
Das Ergebnis könnte jedoch auch der Einfluss des
männlichen Behandlers sein, obwohl ein strikt standar-
disiertes Konzept für den Messungs- sowie Behand-
lungsablauf festgelegt und auch eingehalten wurde.
Die Frage, ob das Ergebnis anders ausgefallen wäre,
hätte eine Physiotherapeutin die Behandlungen durch-
geführt, ist diskussionswürdig und offen, da die thera-
peutische Interaktion eine höchst komplexe ist.
Themenschwerpunkt
Gender
Physiotherapie
und Gender?
Die Bedeutung des Geschlechts als Einflussfaktor auf das
physiotherapeutische Behandlungsergebnis wurde noch nicht
durch klinische Studien untersucht, das Wissen über gender-
spezifische Erkenntnisse in der Medizin und in der Kommuni-
kation ist jedoch von Vorteil.
© air - Fotolia.com
Ana Kozomara, MSc, MBA
Ausbildung zur Physiothera-
peutin 1983–1986 Uni Zagreb,
Medizinische Fakultät, Zweig:
Akademie für Physiotherapie.
Fort- und Weiterbildungen
in den Bereichen FBL, Analy-
tische Biomechanik nach
Sohier/Manuelle Therapie,
3-D-Skoliosebehandlung nach
Schroth, Sling Exercise The-
rapy, Bobath (Erwachsene),
IBITA anerkannt, Sonderausbil-
dung für Führungskräfte der
mittleren Managementebene.
Weiterführende Studien: MSC-
Ausbildung »Child’s Develop-
ment«, MBA Gesundheits- und
Sozialmanagement. Leitende
Physiotherapeutin Univ.
Klinikum Graz, Klinik für
Kinder- und Jugendchirurgie
Physiotherapie im stationären
und ambulanten Bereich,
Lehrtätigkeit an der
FH JOANNEUM
Graz.
1,2,3,4,5 7,8,9,10,11,12,13,14,15,16,...32