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Dezember 2012
25
Univ.-Prof. Dr. Alexandra
Kautzky-Willer
ist Internistin, Endokrinolo-
gin und seit 2010 Universi-
tätsprofessorin für
Gendermedizin an der Medi-
zinischen Universität Wien.
Es gibt aber viel zu wenig Daten dazu. Dasselbe gilt auch für
Medikamente, die Kindern verabreicht werden. Letztlich
brauchen wir auch in solchen heiklen Bereichen Studien.
Wo sehen Sie die Unterschiede in der Medikation.
Gibt es typische »Frauenmedikamente«?
Ja. Das ist ganz klar, wenn man sich die Verschreibungen
anschaut. Obwohl Herz/Kreislauferkrankungen bei beiden
Geschlechtern vorkommen und Frauen aufs Alter gerechnet
sogar mit höherer Wahrscheinlichkeit daran sterben, bekom-
men Frauen weniger Herz/Kreislaufmedikamente, weniger
Blutdrucksenker, weniger Lipidsenker und andererseits
wesentlich mehr Psychopharmaka wie Antidepressiva oder
Schlafmittel. Was natürlich auch daran liegt, dass sie
doppelt so oft Depressionen diagnostiziert bekommen.
Ist das eine Frage der Nachfrage oder des Bildes,
das der Arzt hat?
Das ist eine schwierige Frage. Es gibt ja schon das Lied von
»Mothers little helpers«. Aber es ist sicher so, dass Frauen
bei psychischen Erkrankungen überdiagnostiziert und
Männer unterdiagnostiziert werden. Dieses Verhältnis gehört
korrigiert. Bei Frauen wird zu leichtfertig agiert und Männer
haben dafür eine viel höhere Selbstmordrate. Es ist klar, dass
dahinter undiagnostizierte Depressionen stecken. Hier ist es
oft so, dass Männer atypische Symptome zeigen. Oft wird
eine Depression fast als weibliche »Eigenschaft« gesehen.
Ein Mann gilt ja klassischer Weise als der, der immer alles im
Griff hat – da passt eine Depression natürlich nicht ins Bild.
Daher ist es gut, dass es die Diagnose Burnout gibt – eine
Diagnose mit der sich Männer vielleicht eher anfreunden
können. Hier spielen natürlich Stereotypien hinein.
INTERVIEW
Bernhard Baumgartner, BA
Ist das, was Sie wissen, schon bei den Ärzten draußen
angekommen?
Leider noch nicht wirklich. Aber es wird besser, das
Interesse steigt. Auch die Anzahl der Publikationen mit
Genderaspekten steigt stetig. Erst kürzlich wurde festge-
stellt, dass Darmkrebs bei Männern öfter auftritt und
aggressiver verläuft. Nun wird überlegt, das Darmkrebs-
screening bei Männern nicht mehr ab 50 sondern ab 45
zu empfehlen. Das sind ganz wichtige praktische Konse-
quenzen, die eigentlich längst klar sein sollten. Aber wenn
man nicht auf Unterschiede prüft, wird man sie nicht
finden.
Worauf muss man als PhysiotherapeutIn achten?
Jedenfalls auf die Kommunikation mit den PatientInnen.
Gespräche verlaufen mit Patientinnen anders als mit
Patienten. Da gibt es Daten, dass Gespräche mit Frauen
länger brauchen und dabei eher auch die Lebenssituation
mit einbezogen wird. Man sollte vermehrt auch bei männ-
lichen Patienten versuchen, die Lebenssituation oder die
psychischen und sozialen Faktoren zu erfassen. Dafür
muss man sich bei Frauen eher davor hüten, in der Psy-
cho-Schiene zu landen, sondern körperliche Ursachen ab-
klären, auch wenn die Beschreibung vielleicht nicht so klar
ist. Dazu kommt, dass es Daten gibt, wonach Männer im
ärztlichen Gespräch dazu tendieren können, Schmerzen
herunterzuspielen – vor allem wenn sie von einer Frau
untersucht werden. Da will man Schmerzen offenbar nicht
zugeben, weil es nicht dem Bild des Mannes entspricht.
Hier zahlt es sich aus, lieber zweimal nachzufragen und
sich Zeit zu nehmen, auf die PatientInnen einzugehen.
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