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austria
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Februar 2013
27
Schon wieder ein Artikel, der sich mit der Endlichkeit des
Lebens und der palliativen Physiotherapie auseinander-
setzt. Kein Thema, das wirklich »sexy« ist. Weiterblättern?
Oder doch lesen? In diesem Artikel wird es darum gehen,
sich mit Realitäten auseinanderzusetzen. Oder, um Chris-
toph Schlingensief frei zu zitieren, sollten wir doch damit
rechnen, dass in den nächsten 100 Jahren 6,5 Milliarden
Menschen sterben werden.
Die anderen Realitäten sind die demografische Entwick-
lung und die Folgen der medizinischen Möglichkeiten.
Diese beiden Faktoren werden auch die Tätigkeiten der
PhysiotherapeutInnen beeinflussen und nötigen uns ei-
nige Gedanken ab, inwieweit sich, beginnend bei der
Aus- und Weiterbildung bis hin zu persönlichen Haltun-
gen und Sichtweisen, die Physiotherapie erweitern wird
(müssen und dürfen).
Demografische Entwicklung: Immer mehr ältere
Menschen und immer mehr Alleinlebende
Die Bevölkerungspyramide (die nur mehr mit viel Fantasie
als Pyramide erkannt werden kann) zeigt, dass der Anteil
der über 75-Jährigen in Österreich 2030 die Millionen-
marke überspringen wird (derzeit ca. 600.000) und dass
es einen eklatanten Zuwachs von alleinlebenden über
75-jährigen Menschen in den kommenden 30 Jahren
geben wird (rkw-Kompetenzzentrum; Statistik Austria).
PhysiotherapeutInnen zu erklären, was dies an funktio-
nellen Herausforderungen für diese Menschen bedeutet,
hieße Eulen nach Athen tragen. Dennoch sei die Frage
gestattet, ob wir PhysiotherapeutInnen für diese Heraus-
forderungen bereits gerüstet sind? Viele unserer Patien-
tInnen, die wir derzeit behandeln, sei es in Einrichtungen
oder auch in der freien Praxis, sind bereits über fünfzig
Jahre alt und es kann davon ausgegangen werden, dass
»der durchschnittliche Physiotherapiepatient der Zu-
kunft« nicht jünger sondern älter und nicht sportlicher,
sondern multimorbider sein wird.
Dass diese PatientInnen, die aus einer Leistungsgesell-
schaft entstammen und es gewohnt sind, zu tun, zu ar-
beiten, selbstständig zu sein, aktiv am Leben
teilzunehmen, dort die verschiedensten Rollen innezuha-
ben und ihren Körper zu erziehen, im hohen Lebensalter
oder bei Eintritt von lebensqualitäts- und lebenszeitver-
ringernden Erkrankungen vor mehr als nur funktionellen
Herausforderungen stehen, wird immer deutlicher sicht-
und spürbar sein. Auch für uns PhysiotherapeutInnen. Im
Rahmen des demografischen Wandels ist auch zu beden-
ken, dass zusätzlich noch mehr PatientInnen als bisher
aus anderen Kulturkreisen physiotherapeutische Ange-
bote in Anspruch nehmen werden. Deren schwere Er-
krankungen, Pflegesituationen und Sterben werden noch
einmal um Herausforderungen für die professionellen
Helfer erweitert.
Aus Untersuchungen wissen wir, dass alte Menschen und
auch Menschen mit palliativen Erkrankungen sehr oft
unter Ängsten leiden, anderen (zum Beispiel Angehöri-
gen) zur Last zu fallen, da sie ihre Selbstständigkeit und
ihre körperlichen Funktionen verlieren könnten, und dass
dies und eine grundsätzliche körperliche Kondition zu
den wichtigsten Determinanten oder auch Einschränkun-
gen der Lebensqualität führt (Jolliffe & Bury 2002, Older-
voll et al. 2006). Dass dadurch auch eine
Identitätsveränderung der betroffenen Personen stattfin-
det, ist ebenfalls bekannt (Dreßke 2005).
Sind wir PhysiotherapeutInnen, die wir mit den rein kör-
perlichen Veränderungen sicher und gut umgehen kön-
nen, auch gut genug gerüstet, dem psychosozialen,
spirituellen Wandel, der Hand in Hand mit dem körperli-
chen einhergeht, zu begegnen? Ist es notwendig, hier
Kompetenzen zu erlangen? Haben wir Netzwerke bezie-
hungsweise Teams an unserer Seite, die diese PatientIn-
nen (und auch uns) auffangen können? Wie könnten wir
diese Netzwerke schaffen? Und: Erkennen wir die Be-
dürfnisse und das Leid unserer (leistungsorientierten und
dennoch schwer kranken) PatientInnen? Wie müssen wir
diese Fragen beantworten und was sind die Schlussfolge-
rungen für unseren Handlungsansatz? Welche Modelle
bieten wir unseren Kunden an? Welche Modelle bieten
wir politischen und ökonomischen Entscheidungsträgern
an?
Die Folgen der besseren medizinischen Versorgung
Der Segen der guten medizinischen Forschung und The-
rapie ist, dass wir länger leben dürfen und relativ zur Be-
völkerung gesehen immer weniger Menschen sterben (in
Österreich starben 1970 noch knapp 100.000 Personen,
2011 hingegen nur 76.000 Menschen (Statistik Austria).
Erkrankungen, an denen unsere Großeltern oder unsere
Eltern noch gestorben sind oder sterben werden, werden
wir und unsere Kinder (länger) überleben. Im angloameri-
kanischen Raum nennt man dieses Faktum »Survivor-
ship«. Dass unsere Generation aber auch sterben wird
(vgl. Schlingensief), ist die andere Realität. Die Erkran-
kungen, die am häufigsten zum Ableben führen werden,
verändern sich auch. So wird heutzutage kaum noch ein
Mensch von Unterernährung dahingerafft (im Gegenteil!).
Und obwohl »Krebs« als Todesschreckgespenst Nummer
eins gilt, sterben deutlich mehr Menschen an kardiovas-
kulären Erkrankungen (gefolgt von Tumorerkrankungen
und COPD, die 2020 an dritter Stelle der häufigsten To-
desursachen stehen wird (vgl. Murray & Lopez. Lancet
1997)).
Aus Untersuchungen und Erfahrungen wissen wir, dass
Physiotherapie (Symptomkontrolle, aber vor allem auch
Aspekte des Trainings und des Lifestyle-Coachings) die
Lebensqualität zum Teil in Kombination mit Lebenszeit
von Menschen mit lebensbegrenzenden Erkrankungen
signifikant verbessern kann. Dies gilt zum Beispiel für die
Geriatrie, die Pulmologie, Onkologie oder Palliativmedi-
zin. Die sozialpolitischen Herausforderungen liegen auf
der Hand und sind je nach Jahreszeit, Wahlkampf und
Status der Budgetplanung der Regierungen deutlich zu
vernehmen: Wie schaffen wir es, im Angesicht der demo-
grafischen Entwicklung und der besseren medizinischen
Versorgung die Zeitdauer, in der Menschen Pflege bedür-
fen, so kurz wie möglich zu halten?
PALLIATIVE CARE
Rainer Simader, Eva Müllauer
Die zunehmende Lebenserwartung wird immer
mehr auch zur Herausforderung an die Physio-
therapie. Ein Blick in die Zukunft und auf
mögliche neue Aufgaben.
© Helmut Wallner
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