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physio
austria
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Februar 2013
Aus oben genannten Gründen können auch all jene
klinischen Gebiete, in denen PatientInnen sterben, von
einer palliativen-rehabilitativen Physiotherapie profitie-
ren. Denn diese PatientInnen haben den Wunsch nach
Rehabilitation. Und alle haben Ressourcen, die es wert
sind, analysiert zu werden und in eine adäquate Physio-
therapie integriert zu werden.
Fähigkeiten, mit schwer kranken und alternden PatientIn-
nen zu arbeiten, haben wir alle. Nicht immer sind es die
hochkomplexen Techniken, die hier zur Anwendung kom-
men. Und sind sie dennoch gefordert, so können wir
diese meist. Die Fragen, die hier dennoch noch gestellt
werden müssen: Besitzen und erhalten wir bezüglich
dieses Themas wirklich genügend Wissen, um unsere
Möglichkeiten vollends ausschöpfen zu können und zu
erkennen? Wie stark sind wir in der Gewohnheit der
»typischen Physiotherapie« verhaftet, um diese Heraus-
forderungen wahrzunehmen und ihnen zu begegnen? Wie
gerecht werden unsere Physiotherapieangebote der wan-
delnden Bevölkerungsstruktur und wandelnden Einstel-
lungen unserer PatientInnen? Inwiefern erkennen wir
PatientInnen als ExpertInnen an und richten uns wirklich
nach deren Bedürfnissen? Inwieweit sind ICF für uns nur
drei Buchstaben? Inwiefern reflektieren wir als wichtigen
Teil des physiotherapeutischen Prozesses unsere Haltung
und Einstellung bezüglich unserer PatientInnen und unse-
res Berufes?
Fragen sind manchmal unbequem. Genauso wie das
Altern und Sterben. Christoph Schlingensief sagte: »Ich
habe keinen Bock auf Himmel, ich habe keinen Bock auf
Harfe spielen und Singen und musizieren und irgendwo
auf einer Wolke herumzugammeln!" (Schlingensief 2008).
Und dennoch tat er mit dieser Aussage genau das Unver-
meidliche: Sich mit Realitäten auseinandersetzen.
LITERATUR
Jolliffe J, Bury T. (2002)
The effectiveness of physiotherapy
in the palliative care of older people.
The Chartered Society of Physiotherapy
Murray C, Lopez A (1997)
From what will we die in 2002.
The Lancet, Volume 349,
Issue 9061, Page 1263, 3 May 1997
Oldervoll LM, Loge JH, Paltiel H,
et al. (2006). The effect of a
physical exercise program in
palliative care: a phase II study.
J Pain Symptom Manage 2006;
31(5):421–430.
Rkw-Kompetenzzentrum;
Statistik Austria:
fileadmin/media/Dokumente/
Publikationen/2011_FB_Wifa-
Oesterreich.pdf; 30.12.2012
Statistik Österreich:
/
statistiken/gesundheit/
todesursachen/todesursachen_
im_ueberblick/index.html
Schlingensief, C. (2008)
Zitat aus Der Spiegel 51/2008,
15.12.2008, S. 156
Eine wahrscheinlich entscheidende Frage diesbezüglich
ist: Wann ist der erste Kontakt dieses Individuums mit
seinem/seiner TherapeutIn? Und die Antwort ist: Je frü-
her wir die PatientInnen sehen, desto effektiver können
wir sein. Im Hinblick auf die Effektivität unseres Tuns,
aber auch, um das Vertrauen der mit der Zeit immer ver-
letzlicheren PatientInnen frühestmöglich zu gewinnen,
um in »schweren« Zeiten bereits als verlässlicher Partner
zu gelten und damit effizienter (be)handeln zu können.
Auch hier seien die folgenden Fragen gestattet: Inwie-
weit sind wir PhysiotherapeutInnen, obwohl wir viele
brauchbare Fähigkeiten haben, in der Lage, bei dieser
entscheidenden Frage mitzudiskutieren und unsere
Kompetenzen aufzuzeigen und welche Programme kön-
nen wir hierzu vorweisen? Wer macht es, wenn wir es
nicht tun? Wie schaffen wir es, diese PatientInnen viel
früher in ein physiotherapeutisches Regime zu integrie-
ren, anstatt dann angefragt zu werden, wenn bei Patien-
tInnen schon »der Hut brennt“? Sehen wir uns als
Krankheiten-Behandler oder auch als Gesundheitsförde-
rer/-erhalter/-begleiter? Wie viel Wert legen wir selbst
bei diesen PatientInnen auf den Bereich der Prävention?
Wie schaffen wir es, noch viel stärker als bisher in den
klinischen Bereichen eine zentrale Rolle zu spielen, in
denen die meisten der österreichischen PatientInnen
Versorgung suchen und in denen sie auch am häufigsten
sterben?
Ist Palliative Care die Antwort?
Natürlich nicht, denn die Antworten liegen in uns selbst.
Wie Dr. Horst-Erwin Pilgram, Palliativmediziner aus Graz,
gesagt hat, liegt es an den drei wichtigen Säulen, die
eine gute PatientInnenversorgung stützen: Fähigkeiten
(skills), Wissen (knowledge) und Einstellungen (attitude).
(Nicht unterschlagen möchten wir, dass er den Vergleich
mit einem Drei-Fuß-Steh-Biertisch gebraucht hat, der
umfallen würde, sofern nur eine Stütze nicht ausrei-
chend stark ausgebildet ist.)
Wir alle arbeiten palliativ. Täglich. Und überall. Palliative
Care definiert sich zudem (meist) nicht als eine eigene
Fachdisziplin, sondern es ist eine wesentliche Haltung,
aus der die Physiotherapie einiges lernen kann. Was uns
Palliative Care lehrt, ist, dass wir immer etwas anbieten
können, auch wenn auf den ersten Blick nichts mehr zu
tun ist. Und darüber hinaus: Palliative Care ist nicht die
Herangehensweise, die in den letzten Lebenstagen als
gütige Gabe den nun bald Sterbenden angediehen wer-
den sollte. Im Gegenteil!
Themenschwerpunkt
Berufs- und Bildungsentwicklungen