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physio

austria

inform

Dezember 2015

Themenschwerpunkt

Orchideen der Physiotherapie

Erste Blutungen treten vor allem in den Ellenbogen- und

Sprunggelenken auf oder alsHämaturien. Unter 10.000

männlichen Neugeborenen findet sich statistisch gesehen

ein Junge mit Hämophilie. Hämophilie A kommt sechs Mal

häufiger vor als Hämophilie B. In Österreich sind rund

700 Hämophile erfasst, die mehr oder weniger regelmäßig

ärztliche Hilfe in einem der Zentren in Anspruch nehmen.

Die Hämophiliebehandlung besteht darin, durch Zufuhr von

Faktor VIII oder Faktor IX in Form von Gerinnungskonzen-

traten (aus menschlichem Blutplasma oder gentechnisch

hergestellten Konzentraten) einer sogenannten Prophylaxe

(dreimal wöchentlich intravenös) ein nahezu »normales«

Leben zu führen.

Bewegung und Hämophilie

Hämophile und die physiotherapeutische Behandlung sowie

das Interesse für diese lebensbegleitende Erkrankung

wurden durch mein Praktikum auf einem sogenannten

»Hämophilie Rehabilitation Sommerlager« vor 20 Jahren

geweckt. Seit damals hat sich nicht nur die medizinische

Therapie verbessert, auch aus physiotherapeutischer Sicht

wird deutlich, dass eine Bewegungsvielfalt zur Lebensver-

besserung beiträgt. Das Rehabilitation-Sommerlager ent-

wickelte sich zum Sportcamp mit physiotherapeutischer

Betreuung, weitere Möglichkeiten, mit Gleichgesinnten

Sport zu machen, sind Jugend- und Wintercamps. Als ich

meine Diplomarbeit zum Thema »Wahrnehmungsschulung

bei Hämophilen zur Verbesserung der Gelenksbeweglich-

keit« verfasste, dachte ich, revolutionär in dieser Sache zu

sein. Ich erinnere mich gerne zurück, mit jugendlichem

Leichtsinn oder einfach nur intuitiv gehandelt und vieles

gemacht zu haben, das sich bewährt hat und wichtig ist.

Hämophile sollen sich bewegen, Bewegungserfahrungen

machen und sie wissen genau was ihnen gut tut und was

nicht. Als Therapeutin kann ich vertrauen, dass hämophile

Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene Experten für ihr

»Krankheitsbild« sind. Für mich gehört Physiotherapie oder

besser gesagt die physiotherapeutische präventive Beglei-

tung ab der Diagnosestellung »Hämophilie«, genauso wie

die medizinische Substitutionstherapie, zum Behandlungs-

schema. Damit kann den typischen Beugestellungen in

Hüfte, Knie, Ellenbogen und Spitzfuß entgegengetreten

werden, noch vor 20 Jahren, als die Substitutionstherapie

in den Kinderschuhen steckte, waren Kontrakturen unver-

meidbar. Noch heute gibt es Staaten in Europa, die nicht

ausreichend Gerinnungspräperate zur Verfügung haben

und wo junge Patienten mit massiven Kontrakturen und

Bewegungseinschränkungen leben müssen.

Physiotherapie

bewegt Hämophilie

Hämophilie, auch Bluterkrankheit, ist eine x-chromoso-

mal rezessiv vererbbare Blutgerinnungsstörung. Sie wird

durch einen Defekt eines einzigen Proteins der Gerin-

nungskaskade, einer Verminderung von Faktor VIII (Hä-

mophilie A) oder Faktor IX (Hämophilie B) hervorgerufen.

Der Mann, der das Erbmerkmal trägt, hat Hämophilie.

In der Regel leiden nur Männer unter Hämophilie. Andere

Blutgerinnungsstörungen kommen jedoch auch bei

Frauen vor. Ein Hämophiler vererbt sein hämophiles Erb-

merkmal über das X-Chromosom an alle seine Töchter.

Diese Frauen sind nicht hämophil, können aber das hä-

mophile Erbmerkmal wieder auf ihre Kinder übertragen.

Fast die Hälfte der heute neu diagnostizierten hämo-

philen Kinder haben keine hämophilen Vorfahren. Die

Hämophilie ist in diesen Fällen durch eine Veränderung

in der Erbsubstanz (Mutation) zustande gekommen.

Die Wissenschaft hat keine Erkenntnisse, welche schä-

digenden Einflüsse zu solchen Mutationen führen. Dass

sie bei der Hämophilie A so häufig die Ursache sind,

ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass das

Erbmerkmal (Gen), das für die korrekte Herstellung des

Gerinnungsfaktors VIII verantwortlich ist, sehr groß ist.

Andere Blutgerinnungsstörungen kommen jedoch auch

bei Frauen vor.

Klinisch äußert sich der Defekt durch Gelenks- und

Muskelblutungen sowie in Blutungen der inneren Organe

und Weichteile. Wiederkehrende Blutungen führen ohne

Behandlung zu Schädigungen der Gelenke, der Knorpel

und der Synovia. Diese Gelenksveränderungen bringen

Muskelveränderungen mit sich, die zu Verkürzungen und

Atrophien führen. Es kommt zu Gehbehinderungen, Im-

mobilisierungen und Invalidität. Die klinische Symptoma-

tik korreliert mit der Faktor VIII- oder Faktor IX Aktivität,

es werden daher bei beiden Formen vier Schweregrade

unterschieden:

°

schwere Hämophilie: 0–1 Prozent Faktorrestaktivität

°

mittelschwere Hämophilie:

2–5 Prozent Faktorrestaktivität

°

leichte Hämophilie: 6–15 Prozent Faktorrestaktivität

°

Subhämophilie: 16–50 Prozent Faktorrestaktivität

Die schwere und mittelschwere Verlaufsform der Hämo-

philie ist gekennzeichnet durch Spontanblutungen,

die unvorhergesehen, überraschend auftreten und sehr

schmerzhaft sind. Diese Belastungen setzen den Betrof-

fenen für Stunden und manchmal Tage außer Gefecht,

die Belastungen für den Patienten sind groß. Wiederholte

Gelenksblutungen zerstören allerdings mit der Zeit wich-

tige Gelenkstrukturen und führen damit zu dauernder

Körperbehinderung mit Schmerzen und Funktions-

störungen ähnlich wie beim RheumatikerInnen.

Bewegung und Sport sind für Bluter essentiell

zur Förderung von Lebensqualität, helfen aber

auch das Risiko von Blutungen zu vermindern.

Ein Erfahrungsbericht.

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