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Dezember 2015
25
MENTAL HEALTH
Stefan Perner, BA, BSc
In den 1960er Jahren begann mit grundlegenden Publi-
kationen von Bruch eine Forschungslinie, die sich der
veränderten und gestörten Leiblichkeit von Menschen
mit Essstörungen zuwendete. Darauf aufbauend wurde
klar belegt, dass eine spezifische physiotherapeutische
Behandlung zu einem realistischeren Selbstbild und
einem adäquaten Aktivitätslevel führen kann.
Das Bild, das sich ein Mensch von sich selbst macht,
wird einerseits durch all seine Lebenserfahrungen und
Wahrnehmungen formiert und aufrechterhalten. Anderer-
seits ist es die grundlegende Referenz für sein Erleben,
Handeln und Sein in Bezug auf sich und die Welt. In
einem gewissen Rahmen ist es so normal und gesund,
dass sich dieser Lebens-Hintergrund verändert. Auf der
körperlichen Ebene entspricht diese Basis dem Körper-
schema und Körperbild. Bei Menschen mit Essstörungen
finden wir Störungen in der Körperlichkeit, die Leiden
und Infirmität mit sich bringen, also pathologisch sind.
Body Size Estimation
Typische Störungen des Körperschemas werden in der
body size estimation deutlich. Der eigene Körper wird als
normal oder zu dick eingeschätzt, obwohl Untergewicht
beobachtet wird. Diese Ansicht erscheint oftmals un-
korrigierbar und subjektiv gewiss. Die Körperbildstörung
zeigt sich als eine negative Einstellung dem eigenen
Körper gegenüber sowie im Aufstellen eigener Körper-
normen, wie z.B. »meine Oberschenkelinnenseiten
dürfen sich nicht berühren, wenn ich stehe«. Auch wenn
Menschen mit Anorexie kognitiv wissen, dass sie zu dünn
sind, fühlen sie sich dennoch zu dick. Häufig ist der
assoziative Bezug zum eigenen Körper gestört – er wird
als fremd, passiv oder taub erlebt.
Diese Störungen im Körpererleben wirken sich mitunter
drastisch auf Denken und Handeln des betroffenen Men-
schen aus. Es kommt zu unrealistischen Vorstellungen
über die Auswirkungen von Nahrungsaufnahme/-restrik-
tion und über die Effekte von Bewegung und Sport auf
das Körpergewicht. Häufig vorherrschend sind abnorme
Ideen darüber, was andere Menschen über die körper-
liche Erscheinung der Betroffenen denken. Diese Störung
der Beziehung zum Außen, zur Welt, wird durch ein
mangelndes Vertrauen in den eigenen Körper und ein
niedriges Selbstwertgefühl verstärkt. Daraus resultieren-
der sozialer Rückzug und Meiden von exponierenden
Situationen führen schließlich in einen Circulus vitiosus.
Physiotherapeutischer Ansatz
In der Physiotherapie ist zunächst der Aufbau einer guten
therapeutischen Beziehung vordergründig. Weitere Ziele
und Maßnahmen können sich an den Symptomen oder
an den Ressourcen orientieren. Dabei ist zu bedenken,
dass der symptomatische Zugang immer eine direkte
Konfrontation mit der Erkrankung darstellt. Dies ist nur
soweit sinnvoll, als auch ausreichend Sicherheit und
Handlungsalternativen zugänglich bleiben.
Besonders wichtig ist es, den betroffenen Menschen zu
unterstützen, einen nicht-wertenden, offenen und freund-
lichen Bezug zum eigenen Körper zu entwickeln. Es ist
eine mitunter schwierige Aufgabe, eine Atmosphäre zu
schaffen, in der Akzeptanz auf dieser Basis geschehen
kann. Typische Schwerpunkte in der Physiotherapie sind
die Förderung von grundlegenden Ressourcen (z.B. der
Bezug zum Boden), die Stimulation des Körperschemas,
das Erlernen von Entspannungstechniken und Atem-
übungen sowie supervidierte körperliche Aktivität mit
Fokus auf Freude und Genuss an körperlicher Betätigung.
Gruppentherapie ist sinnvoll und wirksam, wenn sie nicht
überfordert. Es können u. a. soziale Kompetenzen ver-
bessert werden und das Rollenspiel bzw. die Exposition
vor Anderen geübt werden.
Körpererfahrung und Körperbewusstsein sind Konstitu-
enten von Ich-Stärke. Im günstigen Fall kommt es zu
vermehrter Selbstsicherheit – einerseits durch Erleben
von Struktur und Orientierung im eigenen Körper,
andererseits durch Erleben von eigener Kraft, Ausdauer,
Selbstwirksamkeit und Entspanntheit.
Stefan Perner BA, BSc.
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