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physio
austria
inform
Dezember 2015
Themenschwerpunkt
Orchideen der Physiotherapie
Wo liegen die Herausforderungen?
Genau da, wo die Faszination liegt, liegen gleichzeitig
meist auch die Herausforderungen. Die größte ist
wahrscheinlich das Abschiednehmen von der Familie,
bevor man in den Zug oder ins Auto steigt. Das ge-
schieht doch recht häufig, denn dieses Jahr komme
ich auf etwa 140 Tage, die ich unterwegs sein werde.
Da kann das Reiseziel noch so schön oder exotisch sein!
Ansonsten besteht die Kunst darin, sich selbst so gut
wie möglich zu organisieren.
Was war das größte sportliche Ereignis an
dem Sie teilgenommen haben?
Das war definitiv die diesjährige Tour de France. Ich
habe zwar neben den alljährlichen Weltmeisterschaften
und einigen großen Rennen auch schon die europäi-
schen Spiele dieses Jahr in Baku miterleben dürfen, der
Enthusiasmus der Fans in Frankreich ist aber nur schwer
zu überbieten! Ein Beispiel: Zum Schlussanstieg hinauf
nach Alpe d'Huez am vorletzten Tag waren auf den
letzten 13 Kilometern etwa eine halbe Million Zuschaue-
rInnen direkt an der Strecke. Wir wurden sogar im
Betreuerauto gefeiert wie die Athleten selbst, da gab es
doch ein wenig Gänsehaut, auch bei uns Betreuern.
Was müssten KollegInnen, die ebenfalls in
diesem Bereich tätig sein wollen, beachten?
Der Idealfall ist wahrscheinlich immer eine eigene aktive
Vergangenheit im Leistungssport. Die Empathie, die man
dann den SportlerInnen, ihren Strapazen und Bedürfnis-
sen, entgegenbringen kann, ist unbezahlbar und wird
auch geschätzt. Ansonsten helfen natürlich Zusatzausbil-
dungen in manuellen Therapien und idealerweise Zusatz-
kenntnisse in Cranio Sacraler Therapie oder chinesischer
Medizin. Die Ausbildung zum Sportphysiotherapeuten ist
zwar bei den meisten Teams nicht vorgeschrieben, hat
mir persönlich aber sehr geholfen.
Mag. Patricia Otuka-Karner
Schnell und schneller
Als Physiotherapeut im Radsport? Wie sind Sie
dazu gekommen?
Mein Vorteil ist die Zeit als aktiver Radrennfahrer in den
Jugendkategorien, aus der ich noch viele aktive AthletIn-
nen kenne. So wurde ich das erste Mal bereits während
meiner Ausbildung zum Physiotherapeuten 2008 vom
damaligen KTM Team gefragt, ob ich nicht nach Japan
mitfahren würde, damals noch unbezahlt – versteht sich.
Nach einigen Einsätzen im In- und Ausland klopften
dann schließlich das »Team Tirol« sowie auch das österrei-
chische Nationalteam an, mit welchem ich beispielsweise
bei Europa- und Weltmeisterschaften nach wie vor im
Einsatz bin. Durch eine Empfehlung des Nationaltrainers
Franz Hartl hatte ich das Glück, letztendlich beim deut-
schen Professional Continental Team »BORA Argon18«
unter Vertrag zu kommen, das ich bei den weltweit
größten und bedeutendsten Rennen als Physiotherapeut
begleiten darf.
Was ist das Faszinierende daran?
Da gibt es so Einiges. Für mich bietet die Betreuung im
Spitzensport den idealen Kontrast zum Praxisalltag, von
dem beide Seiten - meine PatientInnen in der Praxis
sowie auch die Athleten - profitieren. Die Abwechslung
hält die Motivation für meine Arbeit aufrecht und die
Erfahrung von der Arbeit mit meinen PatientInnen in der
Praxis hilft natürlich ungemein auch in der Wettkampf-
betreuung. Denn als Physio bist du komplett auf dich ge-
stellt, wenn es um die Probleme der Athleten geht. Egal
um welches Problem es sich handelt, du musst dein
Möglichstes tun, um den Fahrer am nächsten Tag wieder
zurück in den Sattel zu bekommen. Dass das nicht immer
einfach ist, erkennt man spätestens dann, wenn man die
zahlreichen Stürze und die Strapazen der Renner wäh-
rend einer Rundfahrt im Fernsehen zu Gesicht bekommt.
Mit den Radsportlern komme ich auch in Gegenden der
Welt, wohin ich sonst mit Sicherheit nie hinkommen
würde. So war ich beispielsweise im tibetischen Hoch-
land unterwegs oder auf einigen japanischen Inseln und
habe auch Staaten wie Katar oder den Oman bereist.
Momentan bin ich gerade in Kanada, bevor es nach
einem kurzen Abstecher nach Hause auch gleich wieder
weitergeht in die USA. Wir haben zwar nicht viel Zeit für
Sightseeing, doch vom Leben der Menschen dort be-
kommt man meist einen sehr guten Eindruck.
© veloimages
Physiotherapie im Radsport
Der Niederösterreicher Bernhard Spieslehner ist
29 Jahre alt und arbeitet seit seinem Abschluss
2010 in St. Pölten als freiberuflicher Physiothera-
peut und im Radsport. Im Interview mit Inform
berichtet er über die Herausforderungen und die
Faszination.