inform Nr.4 September 2014 - page 10

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physio
austria
inform
September 2014
Themenschwerpunkt
Berufsbild Physiotherapie
Was heißt Assessment im medizinischen bzw. physio-
therapeutischen Kontext? »Abschätzung; Zusammentra-
gen von Informationen anhand standardisierter Sche-
mata von Informationen, um das Ausmaß vorhandener
bzw. verlorener Fähigkeiten einschätzen zu können;
z.B. bei Schlaganfall, seniler Demenz, nach wiederholten
Stürzen od. zur Beurteilung der Selbständigkeit älterer
Menschen (s. Aktivitäten des täglichen Lebens), der
Pflegebedürftigkeit bzw. Notwendigkeit der Heim-
unterbringung.« (Pschyrembel)
Tesio (2007) wiederum beschreibt Assessment als einen
Entscheidungsprozess, wobei gemessen und beurteilt
wird sowie Klassifizierungen stattfinden. Es dient der
Erfassung und Beurteilung körperlicher, psychischer und
sozialer Merkmale und Fähigkeiten. D.h. das Assessment
orientiert sich am viel strapazierten Bio-Psycho-Sozialen-
Modell.
Assessment wird auch als zielgerichtete, wissenschaft-
lich-systematische und standardisierte Bewertung von
PatientInnen gesehen. Dabei stehen die Rehabilitations-
eigenschaften in einem definierten Setting (z.B. Begut-
achtung im Rahmen eines Rentenantrages, Aufnahme
und/oder Entlassung in eine Rehabilitationseinrichtung)
im Fokus (vgl. Wallesch und Hasenbein 2001).
Dies sind nur drei Beispiele wie Assessment definiert
werden kann, die sowohl zur Klärung als auch zu zusätzli-
cher Verwirrung beitragen können. Die Frage »Wozu
brauchen wir Assessments?« scheint mir wesentlich,
um aus der Anzahl der Definitionen und der für ein
Assessment nötigen Messinstrumente, die für die
jeweilige Arbeitssituation der einzelnen Physiothera-
peutIn adäquate Antwort und Lösung zu finden.
Zweck und Nutzen von Assessment
Das Assessment kann der Diagnostik dienen, um die
Wahrscheinlichkeit einer bestimmten (physiotherapeuti-
schen) Diagnose zu bestimmen. Im Zuge der Entschei-
dungsfindung im Rehabilitationsprozess – im Idealfall
zwischen PatientIn und Rehabilitationsteam (shared
decision making) – können Assessments eine große Hilfe
sein und die Behandlungsplanung und Entscheidung über
die Art der Therapie erleichtern bzw. vielleicht sogar erst
möglich machen. Manche Assessmentinstrumente (clini-
cal predicting rules) werden zur Vorhersage des klini-
schen Verlaufes und der Prognose herangezogen. Ein für
PhysiotherapeutInnen besonders wesentlicher Punkt ist
die Möglichkeit der Evaluation des Behandlungserfolges
als Teil des physiotherapeutischen Prozesses. Geeignete
Instrumente können auch das Erkennen von Nebenwir-
kungen von Interventionen in standardisierter Weise er-
möglichen und das Ausmaß messen. Nicht außer Acht
gelassen werden darf die Tatsache, dass sowohl die
Qualitätssicherung als auch das Erfassen der PatientIn-
nenzufriedenheit Sinn und Zweck sein kann/muss.
Schlussendlich ist das Assessment auch Basis für die
Forschung, da adäquate und zuverlässige Messinstru-
mente die Grundlage systematischer und präziser (wis-
senschaftlicher) Arbeit sind.
Das Assessment kann demnach unterschiedlichste
Zwecke haben und die Auswahl der geeigneten Tests und
Messverfahren hängt von der Zielsetzung ab. Physiothe-
rapeutInnen können Nutzen aus dem Assessment zie-
hen, je nach Bedarf und abhängig davon, wer der
»Kunde« ist. Freiberuflich tätige KollegInnen, die an die
Kassen »Erfolgsberichte« schicken müssen, werden sich
anderer Instrumente bedienen als KollegInnen, die For-
schungsfragen nachgehen. Im Bereich der Arbeitsmedi-
zin, wo u.U. Unternehmen die Kunden sind, interessiert
natürlich der Kostenfaktor. Was kostet es mich, wenn ich
die Arbeitsplätze nach ergonomischen Gesichtspunkten
umgestalte, meinen MitarbeiterInnen im Rahmen der
Gesundheitsförderung die Möglichkeit zur Bewegung/
Entspannung am Arbeitsplatz biete und vielleicht sogar
in großen Konzernen eine eigene PhysiotherapeutIn
beschäftige? Und was bringt es mir? Können weniger
Krankenstandstage in diesem Fall oder auch die höhere
Mitarbeiterzufriedenheit mit den Interventionen durch
die Physiotherapie in Zusammenhang gesetzt werden
und wie erfolgt der Nachweis?
Sind nun PatientInnen »KundInnen«, sind diese durchaus
daran interessiert ihre Fortschritte und Erfolge gemessen
und »sichtbar« gemacht zu bekommen oder im Falle
chronischer Erkrankung zu sehen, dass sich ihr Einsatz
und die viele Zeit, die sie für konsequente Therapie auf-
wenden, Früchte trägt. Langsameres Voranschreiten der
Erkrankung oder die erfolgreiche Wiederherstellung des
Zustandes nach einem Infekt, MS-Schub, einer Exazerba-
tion bringt physisches und psychisches Wohlbefinden
und oft wird Zahlen und Werten mehr vertraut als dem
persönlichen Empfinden. Da die PatientInnen im extra-
muralen Bereich im Regelfall zumindest einen Teil der
Behandlungskosten selbst tragen, kann Geld durchaus
Assessment – Fluch oder Segen?
Der Begriff Assessment ist seit Jahren im medizinischen Bereich verbreitet und
stellt für einige PhysiotherapeutInnen ein tägliches Arbeitsinstrument dar,
während er für andere Mitglieder der Berufsgruppe eher abstrakt bleibt.
Dieser Umstand beschäftigt seit einiger Zeit auch Physio Austria, da die Diskrepanz
zwischen Wissen und Akzeptanz und dem Unbehagen vor »Assessment, dem
unbekannten Wesen« in Diskussionen mit den Mitgliedern augenscheinlich wird.
Der folgende Artikel setzt sich mit grundsätzlichen Überlegungen auseinander
und dient als Einleitung einer Artikelserie, die sich des Themas annehmen wird.
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