ERFAHRUNGSBERICHT
Kind Wayan
An der Hippotherapie gefällt mir, dass ich
am Pferd gerade sitzen kann. Auch mein
Gleichgewicht kann ich dabei besser halten,
denn ohne Hippotherapie habe ich fast
kein Gleichgewicht und hab auch immer
einen runden Rücken.
Es gefällt mir, mit den Pferden zusammen
zu sein und meine Therapeutin hat dazu
beigetragen, dass es mir besser geht,
denn meine Therapeutin ist die Beste auf
der Welt.
Wayans Vater
Du gewinnst Vertrauen zu größeren Tieren
und verlierst dabei eine gewisse Scheu.
Eine Therapeutin hilft dir dabei. Außerdem
unterstützt sie dich beim richtigen Reiten
und den besten Bewegungen für dich.
Es ist ein neues Bewegungsgefühl und das
Gleichgewicht wird aktiviert. Wenn dabei
noch Freude aufkommt, wird die Psyche
positiv beeinflusst.
Unsere Kinder reiten beide gern. Seit sie
diese Therapie erhalten, sind sie von den
Bewegungen her sicherer und stabiler ge-
worden. Unsere Therapeutin weiß genau,
was für sie gut ist. Hippotherapie ist eine
tolle Sache!
physio
austria
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September 2012
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Kinder wird man besonders einfühlsam an das Pferd
heranführen, um Ängste vor dem großen Tier zu ver-
meiden. Meist überwiegt jedoch der Wunsch, reiten
zu dürfen, und sie genießen die neue Atmosphäre.
Bereits das Aufsitzen kann je nach Fähigkeiten der
Patientin/des Patienten therapeutisch genützt werden.
Vom Boden aus aufsitzen, von einer Rampe aus oder
auch mit einem Lifter. Bei Kindern hat man auch noch
die Möglichkeit, hinter den Patienten mit auf dem Pferd
zu sitzen. So kann man viel Sicherheit geben, die Bewe-
gungen mit dem eigenen Becken mitführen und hat die
Hände für weitere Hilfestellung frei. Die/Der TherapeutIn
muss ständig darauf achten, der/dem PatientIn die
nötige Hilfe zu geben (auch mit dem Rumpf zur Aufrich-
tung), muss jedoch ständig überprüfen, wie viel Aktivität
von der Patientin/von dem Patienten übernommen
werden kann. Wir haben im Therapieverlauf die Möglich-
keit der Schrittarbeit, der Trabarbeit, eventuell zur Tonus-
erhöhung oder Therapieanforderungssteigerung und das
Absitzen. Auch eine Verabschiedung gehört dazu!
Um das Pferd zielgerecht einzusetzen, haben wir die
Möglichkeit von Schrittgeschwindigkeitsvarianten,
Kurven zu gehen, anzuhalten (antizipiert oder nicht),
Handwechsel und auch einige Hilfsmittel. Die/Der Pa-
tientIn muss ständig auf die Bewegungen des Pferdes
reagieren und erlebt die Bewegung durch den Raum mit
vier gesunden Beinen.
Hippotherapie ist eine körperorientierte Kommunikation
und ein Therapieerfolg kann nur erzielt werden, wenn das
gesamte sensorische Defizit des Menschen mit einem
individuellen, angepassten Angebot angesprochen wird
und nicht nur in motorischen Kategorien gedacht wird.
Hippotherapie als eine Facette im Fächer moderner
Behandlungsmöglichkeiten ermöglicht Mobilität und
Teilhabe am Leben.
Indikationen
°
Erkrankungen des zentralen und peripheren
Nervensystems: Cerebralparese, zentrale
Hypotonie, Multiple Sklerose (encephalitis
disseminata), Zustand nach Insult, Spina bifida
(Myelomeningocele), Rückenmarkserkrankungen,
minimale Dysfunktion, MCP
°
Posttraumatischen Erkrankungen:
Querschnittslähmung, Zustand nach SHT
°
Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates:
Bandscheibenprobleme, Hüftgelenkserkrankungen,
Skoliose, Haltungsschwäche, Muskuläre
Dysbalancen, Zustand nach Amputation
°
Muskel und Stoffwechselerkrankungen: Syndrome
°
Chromosomenanomalien: Downsyndrom
°
Gynäkologische Probleme: Beckenbodeninsuffizienz
Der Einsatz der Hippotherapie bei Kindern ist abhängig
von der Körpergröße und circa ab vier Jahren möglich.
Patient 1
DIAGNOSE
Mehrfachbehinderung mit bilateraler
spastischer Tetraparese mit Beinbetonung,
GMFCS IV
Der erste Patient sitzt mit starker Lordose
auf dem Pferd. Wegen mangelnder Abdukti-
onsmöglichkeit (und dem damals noch ver-
wendeten Voltigiergurt) ist er viel zu weit
hinten und muss sich am Griff abstützen.
Die Ventralkippung des Beckens ist sehr
stark; es muss also vor allem versucht
werden, eine bessere Kippung des Beckens
nach hinten zu erreichen. Mit einem schma-
len Gurt ohne Pauschen kann der Patient die
Knie nach vorne bringen, kommt so in den
tiefsten Punkt des Pferderückens und kann
die Bewegung damit wesentlich physiologi-
scher aufnehmen. Etwas höher gelagerte
Knie (in Richtung Stuhlsitz) werden für die
Arbeit gegen die Hyperlordose akzeptiert.
Die Pferdebewegung wird u. a. so eingesetzt,
dass die Bauchmuskulatur stärker aktiviert
wird. Er sitzt deutlich besser und muss sich
auch nicht mehr abstützen.
HAUPTPROBLEM
Ventralkippung des Beckens,
Hyperlordose in LWS
Patient 2
DIAGNOSE
Bilaterale spastische Tetraparese
mit Beinbetonung, GMFCS III
Dieses kleine Mädchen sitzt genau gegen-
teilig, nämlich mit dorsal gekipptem Becken
und starkem Rundrücken. Hier muss zu-
nächst die Aufrichtung der gesamten Wirbel-
säule und Stabilisierung des Rumpfes erreicht
werden. Als kleine Hilfe dient hier auch ein
dünnes Kissen unter dem Po für eine bessere
Ventralkippung des Beckens. Später kann
sie frei sitzen und sogar leichte Armübungen
durchführen. Fleißiger Schritt ist gut, zu
schnelle Bewegung kann nicht mehr aufge-
nommen werden und wirkt sich kontrapro-
duktiv aus! Zuletzt können große Bögen zur
Erhöhung der Stabilisierungsarbeit eingebaut
werden.
HAUPTPROBLEM
Dorsalkippung des Beckens, Rundrücken
Themenschwerpunkt
Kinderphysiotherapie
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physio
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September 2012
Fotos: Elke Molnar-Mignon
HIPPOTHERAPIE
Thesy Feichtinger-Zrost, MSc, PT
Patient 3
DIAGNOSE
Bilaterale spastische Tetraparese
mit Beinbetonung , GMFCS III
Bei dem dritten Patienten stehen die Tonus-
senkung in den unteren Extremitäten und die
Förderung der Mitbewegung des Beckens an
erster Stelle. Er hat mit der Aufrichtung kein
Problem, kämpft aber mit sehr hohem Tonus
in den Beinen. Bei einem Gurt mit relativ
großen Griffen kann er zunächst nur im
Damensitz, nach kurzer Zeit dann im Stuhl-
sitz mit viel Flexion und fast ohne Becken-
bewegung sitzen. Mit dem flachen Gurt wird
der Sitz physiologischer, er kann in die Pfer-
debewegung eingehen und wird viel lockerer.
Lange, gerade Bahnen empfindet er als be-
sonders angenehm, Kurven stören bei der
Entspannung. Die Tonussenkung in den
Beinen führt nach circa fünf Minuten so weit,
dass sogar der Fuß leicht mitzuschwingen
beginnt. Der Patient gibt an, dass die Reduk-
tion der Spannung in den Beinen etwa drei
Tage anhält. Das Gehen falle ihm leichter
und er habe, solange er regelmäßig Hippo-
therapie erhalte, keine Rückenschmerzen.
Nach circa drei Wochen Therapiepause
(wobei die normale wöchentliche Physio-
therapie weitergeführt wird) merke er eine
deutliche Verschlechterung.
HAUPTPROBLEM
Hoher Tonus in den Beinen
Gleiche Diagnose bedeutet also nicht
gleiche Behandlung: bei den 3 gezeigten
Beispielen sind die Ausgangspunkte und
Ziele unterschiedlich und sie machen deut-
lich, wie wichtig genaues Analysieren sowie
medizinische und reiterliche Kenntnisse für
die Therapie sind.
Gedanken einer betroffenen Mutter
zum Thema Hippotherapie
Meine Tochter Theresa wird nächste Woche 18 Jahre alt,
seit 13 Jahren fahren wir jeden Dienstag zu einer Einheit
Hippotherapie.
Als wir damit anfingen, war sie ein kleines zierliches und eher
schwaches Persönchen. Sie konnte ohne Hilfe der Therapeutin
nicht am Pferd sitzen. Von Anfang an hat es ihr Spaß gemacht
und niemals hatte sie Angst vor diesen großen Tieren.
Mit der Zeit lernte sie aufrechter zu sitzen und ihren Körper
besser unter Kontrolle zu halten. Dann kam die Zeit, als
sie alleine auf dem Pferd sitzen durfte, dies war etwas hölzern
und der Kopf wackelte bei jeder Bewegung mit.
Heute sitzt meine Tochter aufrecht und sehr stolz am Pferd,
lenkt es selbständig. Das Becken ist mittlerweile auch nicht
mehr starr, sondern bewegt sich im Schritt des Pferdes mit.
Hippotherapie bedeutet eine Therapie, die Spaß macht.
Theresa bemerkt nicht, dass es eigentlich harte Arbeit für sie
ist. Sie muss nicht motiviert werden, um an diesem Tag etwas
für ihren Körper zu tun. Es bedeutet aber auch Bewegung im
Freien für meine Tochter, die im Normalfall sehr eingeschränkt
und der oftmals langweilig ist. Sie lernt sich bei der Zügelfüh-
rung durchzusetzen und hat immer wieder Freude, wenn ihr
dies gut gelingt. Sie hat Freundschaften mit anderen Kindern
geschlossen und ist auch fleißig in Kontakt mit diesen. Für uns
ist die Therapeutin ein wichtiger Mensch in unserem Leben
geworden, eine kompetente Ansprechpartnerin und Vertraute.
Die Fortschritte, die meine Tochter gemacht hat, sind enorm,
und dies wäre unter anderem nicht ohne Hippotherapie
möglich gewesen. Sie hat schon viele Therapieformen aus-
probiert, aber die Physio- und Hippotherapie sind ihre
ständigen Begleiter geblieben.
AUS THERESAS SICHT
Reiten macht Spaß, die Wärme des Pferdes, Ausreiten
und Zügelführung sind cool, die Freundschaft zu den Pferden,
mein Körper fühlt sich nachher besser an.
Gleiche Diagnose ist nicht
gleicher Behandlungsansatz
Auch in der Hippotherapie ist – wie überall in der Physiotherapie –
ein guter Anfangsbefund äußerst wichtig!
Anhand von drei Beispielen wird aufgezeigt, dass die gleiche Diagnose nicht
unbedingt bedeutet, dass der Therapieansatz ident ist. Im Gegenteil muss
stets genau darauf geachtet werden, wo die/der jeweilige PatientIn ihre/
seine vorrangigen Probleme hat und diese sehr gezielt behandelt werden.
Alle drei PatientInnen werden mit der Diagnose »Bilaterale spastische
Tetraparese mit Beinbetonung« zur Hippotherapie überwiesen.