physio
austria
inform
September 2012
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September 2012
In der Kinderphysiotherapie ist, so wie bei
jeder physiotherapeutischen Behandlung,
vor der Therapie ein physiotherapeutischer
Befund zu erheben. Das klingt sehr logisch,
aber: Die Durchführung ist in der Praxis nicht
ganz einfach.
Denn die Bereiche der Herausforderungen
sind vielfältig. Während in der »normalen«
Physiotherapie, also bei Erwachsenen bis
hin zu den Senioren, altersmäßig genau
abgestimmte Befunde und Therapien keine
übergeordnete Rolle spielen, verlangen die
Altersgruppen in der Pädiatrie sehr wohl eine
gut zu beachtende Differenzierung, denn: die
Pädiatrie erstreckt sich von Frühgeborenen
bis hin zu jugendlichen PatientInnen und so
gilt: Je jünger das Kind, desto größer die
Herausforderung. Zudem können sich Er-
wachsene zumeist klarer ausdrücken und
gegebene Anweisungen besser befolgen.
Die Formen der möglichen Erkrankungen
sind auch in der Pädiatrie sehr vielfältig
und liegen im Bereich der Orthopädie,
Neurologie, Pulmologie und der Internen.
Allerdings können zusätzlich Sinnesorgane
beeinträchtigt sein, Umstände, die vielleicht
bis dato verborgen waren, nicht diagnosti-
ziert wurden. Auch liegt eventuell eine
geistige Behinderung vor und selbst Mehr-
fachbehinderungen sind möglich.
Der allgemeine Zustand und das aktuelle
Befinden beeinflussen die Motorik von Säug-
lingen bis Kleinkindern in weit größerem
Maße, als das bei Erwachsenen beobachtet
werden kann. Beispielsweise zeigt ein Säug-
ling mit Bauchschmerzen eine deutlich
auffällige Motorik der Beine.
Kommen Erwachsene zur Therapie meist al-
leine, so kommen in der Pädiatrie Kinder na-
turgemäß zumindest mit einer Begleitperson,
meist mit beiden Eltern, ja oft mit der ganzen
Familie. Plötzlich ist das Therapiezimmer un-
gewohnt voll, auf einmal gibt es da nicht nur
eine/n PatientIn, sondern viele Personen.
Jede/r mit anderen Sorgen und Anliegen das Kind be-
treffend. Nicht zu unterschätzen sind hier Geschwister-
kinder, die auch beachtet werden wollen und die
tunlichst während der Therapie beschäftigt werden müs-
sen. Jede/r erfahrene PhysiotherapeutIn weiß, dass hier
jetzt nur einige der wesentlichen »Herausforderungen«
beschrieben wurden, auf jeden Fall aber sei hier noch
ein Punkt erwähnt, der zusätzlich berücksichtigt werden
sollte: der zeitliche Druck, der vom eigenen Arbeitgeber
und/oder den Krankenkassen kommt und der eine ef-
fektive Therapie nicht gerade einfach macht.
Wie kann es nun trotzdem gelingen?
Neben der Erhebung der Anamnese und der Befragung
der Eltern ist das wichtigste Mittel: Die sorgfältige und
differenzierte Beobachtung des Kindes.
Was wird beobachtet?
Zu Beginn des Befundes werden der äußere Status, der
soziale Kontakt und das Befinden des Kindes beobach-
tet und festgehalten. Für eine möglichst umfassende
Betrachtung der kleinen PatientInnen sind diese Beob-
achtungen von Bedeutung und es ist daher wichtig, die
jeweiligen Veränderungen zum Zeitpunkt des Befunds zu
notieren. Denn es ist durchaus wahrscheinlich, dass bei
veränderter Stimmungslage des Kindes, z. B. wenn das
Kind ausgeschlafen oder satt ist, die Motorik verändert
sein kann. Ein Befund kann daher am Vormittag zu
einem anderen Ergebnis kommen als am Nachmittag.
Die Spontanmotorik, der wichtigste Teil der Beobach-
tung Im Unterschied zu Erwachsenen zeigen Kinder ihre
motorischen Fähigkeiten meist spontan und ohne be-
sondere Aufforderung. Das gilt vor allem in der Arbeit
mit Säuglingen und Kleinkindern, die ihre motorischen
Höchstleistungen rasch im Spiel zeigen. So kann auf
spielerische Weise die Motorik in der Bauchlage, in der
Rückenlage, beim Drehen von der Rückenlage in die
Bauchlage, bei der selbständigen Fortbewegung, beim
Sitzen und bei der Feinmotorik gut beobachtet werden.
Die Beobachtungen erfolgen stets mit bestimmten
Zielen:
1
Bestimmung des motorischen
Entwicklungsalters
2
Beurteilung der Quantität und
vor allem der Qualität der Motorik
Themenschwerpunkt
Kinderphysiotherapie
Kinderbefund –
rasch und effektiv
Die Behandlung von Kindern ist in der Physiotherapie immer eine
Herausforderung. Trotz aller schwierigen Umstände ist ein präziser
Befund erforderlich. Er allein bildet die Grundlage, um aus der
großen Zahl der angebotenen Therapien die richtige zu wählen und
die eigene physiotherapeutische Arbeit zu evaluieren.
Fotos: Michaela Pressel
Michaela Pressel, PT
arbeitet seit 1978 als Physio-
therapeutin im Bereich Pädia-
trie. In verschiedenen Einrich-
tungen wie Integrationskinder-
garten, Integrationsschule, der
Kinderklinik des Allgemeinen
Krankenhauses Wien und der
Kinderklinik Glanzing behan-
delte sie von Frühgeborenen
bis zu Jugendlichen PatientIn-
nen mit unterschiedlichsten
Krankheitsbildern. Sie hat
unter anderem eine abge-
schlossene Bobath- und
Vojta-Ausbildung und ist Vojta-
Lehrtherapeutin. Seit 2002
arbeitet Sie in der eigenen
Praxis in Wien.
BEFUND
Michaela Pressel, PT
Um die aus der Beobachtung der Spontanmotorik gewon-
nenen Ergebnisse zu überprüfen, sind beim Säugling bis
zu einem Jahr einige provokative Tests hilfreich. Zudem
haben verschiedene Neurologen eine große Anzahl an
Neugeborenenreflexen gut beschrieben, von denen
wiederum einige sehr hilfreich sind, um Abweichungen der
Motorik zu bestätigen. Weitere überaus wertvolle Unter-
stützungen stellen die »Lagereaktionen« nach Prof. Dr.
Václav Vojta dar. Nach seiner Definition ist die »Lage-
reaktion« die motorische Antwort auf eine genau defi-
nierte plötzliche Veränderung der Körperlage. Sie über-
prüft die posturale Reaktibilität und modifiziert sich jeweils
nach Erreichen einer bestimmten Altersstufe. Vojta hat in
seiner Arbeit sieben Lagereaktionen als Screeningtest für
ÄrztInnen zusammengefasst, die für alle Kinder bis zum
ersten Lebensjahr geeignet sind. In der Physiotherapie
dient die Verwendung der Lagereaktionen zur Bestimmung
des jeweiligen motorischen Entwicklungsalters. Zusätzlich
werden Abweichungen der Spontanmotorik deutlich,
wodurch letztendlich die Erkenntnisse des bisherigen
Befundes bestätigt bzw. verfeinert werden können.
Größeren Kindern und Jugendlichen stellt man motorische
Aufgaben, wie z. B. Springen, Laufen, Einbeinstand, etc.
Für diese Altersgruppe gibt es zertifizierte Tests zur Quali-
fizierung von Feinmotorik und Grobmotorik, die allerdings
leider meist nur die Quantität und selten die Qualität der
Motorik beurteilen. Anschließend werden die Ergebnisse
der Beobachtung zusammengefasst und konstante Abwei-
chungen festgehalten.
Aus all diesen Fakten können nun zwei wesentliche
Erkenntnisse gewonnen werden und zwar:
1
das Hauptproblem des Kindes und
2
dessen motorischer Hauptmangel.
Beides ist unbedingt erforderlich zur Bestimmung der
Therapieziele und zur Auswahl der geeigneten Therapie.
Und hier vielleicht noch ein entscheidender Hinweis:
Je genauer der motorische Hauptmangel definiert wurde,
desto präziser ist die Durchführung der Therapie möglich.
Letztendlich ist für den Erfolg einer Therapie unumgäng-
lich, dass sowohl die Ergebnisse als auch die Ziele der
Therapie mit den Eltern besprochen und mit deren Ver-
ständnis abgeglichen werden. Die jeweiligen Erfolge der
Arbeit werden jeweils vor und nach jeder Therapie in Form
eines Kurzbefunds festgehalten. So wird nochmals über-
prüft, ob die Bestimmung des motorischen Hauptmangels
und die Auswahl und Durchführung der Therapie richtig
war. Dafür eignet sich unter anderem die Heranziehung
der schon oben erwähnten Lagereaktionen, die ebenfalls
und ohne großen Zeitaufwand vor und nach der Therapie
durchgeführt werden können und zusätzlich die Qualität
der Therapie evaluieren. Die Schulung der Beobachtung
der Spontanmotorik ist das Um und Auf jeder guten
Therapie. Das ist zugegebenerweise ein sehr weites Feld,
das mit Ehrgeiz und aus Büchern allein nicht erlernt
werden kann. Hier hilft ausschließlich eine beständige
Schulung der eigenen Wahrnehmung, der Besuch ent-
sprechender Seminare, der Austausch mit Kolleginnen
und Kollegen, die Reflektion der eigenen Arbeit, ein
Schuss Begabung und: learning by doing …
LITERATUR
Hellbrügge, Theodor (2011)
Fortschritte der Sozial-
pädiatrie 4. Münchner
Funktionelle Entwicklungs-
diagnostik.
Vojta V., Schweizer, E.
(2009) Die Entdeckung
der idealen Motorik.
Vojta V. (2008)
Die zerebrale Bewegungs-
störung im Säuglingsalter.
Zukunft-Huber, Barbara
(2010) Die ungestörte
Entwicklung des Säuglings.
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