physio
austria
inform
September 2012
23
Der Prozess jeder einzelnen Hilfsmittel-
versorgung – egal ob Korsett-, Schienen-,
oder Sitzversorgung – bedarf vieler kleiner
Schritte, welche in ihrer Gesamtheit zu
einem idealen Ergebnis führen sollen.
Das interdisziplinäre Team –
am Beispiel einer Sitzversorgung
Kinder und Jugendliche mit infantiler Cere-
bralparese haben nicht immer die Möglich-
keit, selbstständig und ohne Unterstützung
zu sitzen. Daher werden von dem behan-
delnden Neuroorthopäden oft Sitzschalen
verordnet, welche den PatientInnen die Mög-
lichkeit geben, gut zu sitzen (was oft viele
Stunden täglich nötig ist), besser am Alltag
teilnehmen und sich eventuell selbstständig
mit ihrem Rollstuhl fortbewegen zu können.
Um eine passende Sitzversorgung zu
erhalten, sind im optimalen Fall folgende
Personen beteiligt: die/der KlientIn und
Eltern, direkte Betreuungspersonen und
PädagogInnen aus Kindergarten, Schule oder
Werkstatt, PhysiotherapeutIn, Orthopädie-
technikerIn, Arzt/Ärztin und die jeweilige
Krankenkasse. Nicht selten kommt es bei
fehlender interdisziplinärer Zusammenarbeit
zu unterschiedlichen Wünschen, Blick-
winkeln und Vorstellungen. Es bedarf hier
also intensiver Kommunikation, um auf einen
gemeinsamen Nenner zu kommen.
Um die Anzahl nötiger Wege möglichst
gering zu halten, gehört es zu den Aufgaben
des/der PhysiotherapeutIn, folgende
Informationen vom Rest des interdiszipli-
nären Teams einzuholen:
°
Ärztin/Arzt: Erkennt den Bedarf,
untersucht den klinischen Status der
Gelenke, definiert das Therapieziel und
stellt die Verordnung aus.
°
OrthopädietechnikerIn: Berät über
die Vielfalt an Möglichkeiten und die
Finanzierung. In weiterer Folge ist
sie/er für die Durchführung zuständig.
°
Krankenkasse: Sie ist für die Bewilli-
gung der Verordnung und die Finanzie-
rung des Behelfs verantwortlich.
°
KlientIn/Eltern/Wohngemeinschaft
etc.: Sie berichten über Alltags-
und funktionelle Anforderungen und
treffen die Auswahl.
SITZVERSORGUNG
Alexander Drehmann, MSc und Daniela Hauk, PT
22
physio
austria
inform
September 2012
Themenschwerpunkt
Kinderphysiotherapie
Die/Der PhysiotherapeutIn beurteilt die
motorischen und kognitiven Fähigkeiten,
erfasst vorhandene Fehlstellungen und die
jeweiligen Grenzen und Toleranzen der/des
KlientIn. Daraus ergibt sich die jeweilige
Sitzposition. Verschiedene Therapieziele
werden festgelegt. Diese könnten beispiels-
weise Tonus- oder Wahrnehmungsverbes-
serung, Erhöhung der Partizipation, Ver-
größerung des Aktionsradius, Aktivierung
bestimmter Muskelgruppen etc. sein.
Nach der Zielformulierung wird der Behelf
nach Vorstellung des Teams angefertigt.
Bei mehreren Anproben wird ermittelt, ob
die gesetzten Ziele mit dem vorhandenen
Behelf erreicht werden können.
Zur Überprüfung der Ziele bestehen
folgende Möglichkeiten:
°
Einerseits kann die Sitzschale im Pro-
bezustand für einen bestimmten Zeit-
raum zur Verfügung gestellt werden.
°
Andererseits können die Ziele bei
weniger komplexen Versorgungen
nach Fertigstellung der Sitzschale
überprüft werden.
Die Bewertung der Therapieziele kann
mit einem selbst zusammengestelltem
Fragebogen oder durch die visuelle Analog-
skala (VAS-Skala) erfasst werden.
Im Bereich der Nachbetreuung ist das
interdisziplinäre Team wieder gefragt.
Anatomische oder funktionelle Veränderun-
gen sollten frühzeitig erkannt und weiter
kommuniziert werden, sodass die Erreichung
der Ziele evaluiert und auf aktuellem Stand
gehalten werden kann.
Ein wichtiger Punkt während des gesamten
Prozesses – von Beginn weg bis zur Nach-
betreuung – ist die Kommunikation mit den
Eltern und Angehörigen. Oft ist es Eltern
lieber, ihr Kind länger mittels Rehabuggy
zu versorgen, da er einem gewöhnlichen
Kinderwagen ähnlicher sieht. Für manche
Kinder mit ICP wäre die frühest mögliche
Versorgung mit einem Rollstuhl jedoch von
Vorteil, da dieser auch die Möglichkeit zu
selbstständigem Fortbewegen bieten kann.
Für die Eltern ist die Umstellung von Buggy
auf Rollstuhl jedoch oft die erste intensive
Auseinandersetzung mit dem Thema »Mein
Kind ist behindert«. Es geht hier aber auch
darum, das Verständnis für den Gedanken
»Mein Kind wird behindert« zu entwickeln.
Für die Kinder ist Selbstbestimmung, sofern
das im jeweiligen Fall möglich ist, wichtiger
als der Blickwinkel, in einem »schönen«
Buggy chauffiert zu werden. Die umfassende
Unterstützung der Eltern, vonseiten des
gesamten Teams ist daher wichtig. Die Eltern
sollen die Möglichkeit haben, sich mit sämt-
lichen Gedanken, Ängsten, Sorgen und auch
Chancen auseinanderzusetzen und wohl zu
fühlen.
Auch die Betreuung von PädagogInnen und
Betreuungspersonen ist ein ständig laufen-
der Prozess. Er geschieht meist durch
die/den PhysiotherapeutIn oder die/den
TechnikerIn. Die Versorgung muss technisch
instand gehalten werden, und das tägliche
Handling muss geschult und eingeübt wer-
den. Unzureichende Anwendung der Behelfe
kann zu Komplikationen im Bereich der
Funktionalität führen und sich schlimmsten-
falls auf den Bewegungsapparat auswirken.
Daher ist auch hier die ständige Kommuni-
kation nötig. Die/Der Ärztin/Arzt muss die
Versorgung im Zuge der neuroorthopädi-
schen Kontrolle halbjährlich kontrollieren,
da die gewünschten medizinischen Ziele
auch erreicht werden sollen.
Nicht zu vergessen sind die KlientInnen
selbst! Sie sind die Personen, die stunden-
lang mit der Versorgung zurechtkommen
müssen. Oft ist hier keine verbale Kommuni-
kation möglich. Daher muss auf Veränderun-
gen von Mimik, Tonus, Bewegung, Lautieren
und Partizipation im Alltag geachtet werden.
Alle beteiligten Personengruppen müssen
hier versuchen, sich in die/den KlientIn
hineinzuversetzen und ihr/sein Befinden
zu deuten. Somit stellt sich die Frage, ob
Partizipation bei Kindern mit cerebralen
Bewegungsstörungen ohne verbale Kommu-
nikation in einer Anpassungssituation von
ein bis zwei Stunden erkennbar ist.
Austestungsmöglichkeiten für
komplexe Sitzversorgungen
Da Sitzversorgungen bei PatientInnen mit
cerebralen Bewegungsstörungen oft sehr
komplex sind, kann der standardmäßige
Ablauf manchmal zu wenig sein. Um dem
interdisziplinären Team seitens der Ortho-
pädietechnik eine Hilfestellung zu geben,
können verschiedene Möglichkeiten der
visuellen oder grafischen Austestung ver-
schiedener Sitzpositionen geboten werden.
Visuelle Austestung für
Leichtbausitzschalen
Zu Beginn wird die/der PatientIn in
ihrem/seinem vorhandenen (oder auch
ohne) Behelf beobachtet und beurteilt
(Abb. gegenüber). Vor- und Nachteile
werden erläutert und die Zielsetzung für die
Neuversorgung festgelegt. Die Sitzposition
einer/eines PatientIn kann von jeder Berufs-
gruppe für sich selbst beurteilt werden,
dies erfolgt allerdings nur in einem oft sehr
kurzen Zeitraum und beruht auf der Erfah-
rung der/des jeweiligen Beobachterin/s.
Um ein Konzept für eine neue Sitzversorgung
zu erstellen, benötigt es im Optimalfall min-
destens zwei Termine. Beim ersten Termin
wird die Sitzposition (bzw. der Sitzwinkel)
mittels reitsitzähnlichem Anpassstuhl
(siehe Abb. Seite 24 oben) ermittelt.
Dieser Sitz ermöglicht Menschen mit Körper-
behinderung eine mobile, aktive und dynami-
sche Sitzhaltung. Durch das Einstellen von
Sitzhöhe, Sitzneigung und Bestimmung der
Sitzform kann die Sitzposition im Vorfeld
ausgetestet werden.
Für gutes Sitzen ist
Kooperation gefragt
Interdisziplinäres Arbeiten in der Neuroorthopädie
am Beispiel einer Leichtbausitzschale
Hilfsmittelversorgung ist ein komplexes Thema, da viele Personengruppen
am Prozess einer individuell optimalen Versorgung beteiligt sind.
Gerade im Bereich der Neuroorthopädie ist die Auseinandersetzung
mit speziell angepassten Hilfsmitteln ein tägliches Thema.
Alexander Drehmann, MSc
ist gelernter Orthopädietechni-
ker in Wien. Er arbeitete lange
im Korsettbau, seit 2005 ist er
Leiter der Reha-Abteilung bei
S.O.B.A.Kerkoc GmbH mit
Spezialgebiet Neuroorthopä-
die. Er absolvierte den MSc-
Lehrgang für Neuroorthopädie
und Disability Management an
der Donau-Universität Krems.
Daniela Hauk, PT
schloss 2004 ihre Ausbildung
zur Physiotherapeutin am AKH
Wien ab. Seit 2011 arbeitet sie
als Qualitätsmanagerin im
Bereich Hilfsmittelversorgung
bei S.O.B.A. Kerkoc GmbH –
seit 2011 MBA Studium in
General Management mit
Spezialisierung auf Gesund-
heitsberufe.
1...,2-3,4-5,6-7,8-9,10-11,12-13,14-15,16-17,18-19,20-21 24-25,26-27,28-29,30-31,32