In der trainierenden und aktiven Sturzprävention werden
Gruppenangebote bevorzugt. Von Gruppen wird eine
motivierende, soziale Isolation überwindende und damit
Nachhaltigkeit fördernde Wirkung erwartet. Doch nicht
alle sturzgefährdeten Menschen sind in der Lage oder
willens, an Gruppenprogrammen teilzunehmen. Perso-
nen, die bereits von Fragilität betroffen sind, und deren
Mobilität bereits stark eingeschränkt ist, brauchen häufig
eine individuelle Anleitung, die dann vielleicht auch zur
Vorbereitung auf eine Gruppe dienen kann. Doch auch
für alte Menschen, die bereits als hochgradig sturz-
gefährdet einzustufen sind, kann körperliches Training
zur Verbesserung von Balance und Kraft der unteren
Extremität und zu vermehrter Sicherheit bei der Mobilität
und bei alltäglichen Aktivitäten beitragen.
Das Otago-Übungsprogramm richtet sich genau an
diese Zielgruppe. Es wurde in den 1990er Jahren von
John Campbell und Claire Robertson an der University
of Otago, Dunedin, Neuseeland, entwickelt. Dieses
Programm kann heute als das Übungsprogramm in der
Sturzprävention im Eins-zu-eins-Kontakt mit der besten
Evidenz für Wirksamkeit gelten. Das Otago-Übungspro-
gramm wurde von den Autoren ins Deutsche übersetzt.
Erhältlich ist es als kostenloser Download auf der Web-
seite der Physio-Akademie des Deutschen Verbands
für Physiotherapie, die die Übersetzung auch initiierte
und trug.
Die Wirksamkeit des Otago-Programms wurde im anglo-
amerikanischen Sprachraum in einer Reihe von Studien
überprüft, die auch in Reviews zusammengefasst sind.
Dort wurde eine Reduktion der Anzahl an Stürzen im
Durchschnitt (aller Subgruppen) um ca. 34 und der
Verletzungen um ca. 16, jeweils bezogen auf 100 Perso-
nenjahre, festgestellt (Thomas et al. 2010, Hektoen et al.
2009, Gillespie et al. 2009, Liu-Ambrose 2008, Robert-
son et al. 2001, Robertson et al. 2002). Das Otago-Pro-
gramm ist am effizientesten bei Menschen, die 80 Jahre
und älter sind, und die bereits mindestens einen Sturz
im vorausgegangenen Jahr erlitten haben. Bei dieser Ziel-
gruppe konnte, bezogen auf je 100 Personenjahre, eine
Reduktion der Stürze um 54 und die Zahl der sturzbe-
dingten Verletzungen um 29 erreicht werden (Robertson
et al. 2002, siehe Tabelle 1).
OTAGO
PD Dr. med. Clemens Becker (Stuttgart), Professor A. John Campbell
(Dunedin, Neuseeland), Associate Professor M. Clare Robertson (Dunedin,
Neuseeland), Dr. habil. Ellen Freiberger (Erlangen), Dr. Erwin Scherfer
(Wremen), Karin Stranzinger, Dipl.-Sportwissenschaftlerin (Stuttgart)
Ein in Neuseeland entwickeltes Trainingsprogramm zur Präven-
tion von Stürzen bei älteren Menschen bringt den Patientinnen
und Patienten die Mobilität in ihren Alltag zurück. Die guten
Erfolge, die damit erzielt werden, lassen hoffen, dass es auch
bald in Mitteleuropa vermehrt eingesetzt wird.
physio
austria
inform
September 2012
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physio
austria
inform
September 2012
Ein individuelles Trainingsprogramm zum
Erhalt von Mobilität und zur Sturzprävention
Das Otago-Übungsprogramm
Thema
Geriatrie
Doch auch bei anders definierten Subgruppen konnte
das Programm beachtliche Erfolge verzeichnen. Die
Kosteneffektivität wurde ebenfalls bereits für Norwegen
mit positivem Ergebnis überprüft (Hektoen et al. 2009).
Die vorliegende Evidenz ist zusammengefasst in Tabelle
1. Sie ist auch hinsichtlich ihres negativen Befunds
interessant. Wer zwischen 65 und 79 Jahren alt ist, aber
keine weiteren Merkmale von Sturzgefährdung aufweist,
profitiert wahrscheinlich nicht von dem Otago-Übungs-
programm. Die hier erreichte, klinisch insignifikante
Verminderung der Stürze um 5,4 Prozent (auf 100 Per-
sonenjahre) und mehr noch die festgestellte Zunahme
der sturzbedingten Verletzungen in der Interventions-
gruppe um 2,3 (auf 100 Personenjahre) weisen darauf
hin, dass das Programm für diese Subgruppe nicht
geeignet ist.
Wie bei allen Interventionen kommt es auch in der
Sturzprävention darauf an, dass die Programme zu den
Menschen kommen, die davon auch wirklich profitieren.
Hieraus folgen vier Herausforderungen: Erstens bedarf
es der epidemiologischen Evidenz (oder des Wissens
hiervon) darüber, welche Merkmale Personen überhaupt
zu sturzgefährdeten Personen machen (wir müssen wis-
sen, nach welchen Personen wir in der Sturzprävention
suchen). Zweitens sind diese Personen zu identifizieren
(d.h. wir müssen sie finden), drittens müssen sie moti-
viert werden, ein Übungsprogramm durchzuführen,
und zwar dauerhaft, und viertens müssen wir nach
Wegen suchen, wie sich die evidenzbasierten Inter-
ventionen mit (den Restriktionen der) Leistungserbrin-
gungen in Einklang bringen lassen. So wird z. B. die
ärztliche Verordnungstätigkeit in Deutschland u. a.
durch den Heilmittelkatalog reguliert. Dieser macht
Vorgaben für die Leistungserbringung, die nur schwierig
mit dem evidenzbasierten Programm zu vereinbaren
sind (z. B. die abnehmende Frequenz der Hausbesuche
und die Begleitung auch über Telefonate).
Wesentliche Merkmale des Otago-Übungsprogramms
sind:
°
Das Training wird individuell zusammengestellt.
°
Die Anleitung erfolgt im Eins-zu-eins-Kontakt
durch Hausbesuche.
°
Das jeweilige individuelle Trainingsprogramm wird
aus einem Handbuch standardisierter Übungen zu-
sammengestellt, die den Trainierenden nicht über-
fordern, aber einen deutlichen Trainingsreiz setzen.
°
Die Übungen haben unterschiedliche Schwierig-
keitsgrade, sodass aus dem Handbuch standardi-
sierter Übungen individuell angepasste
Übungsfolgen zusammengestellt werden können.
°
Es findet eine regelmäßige standardisierte Über-
prüfung des Trainingsfortschritts statt, woraufhin
das Training angepasst wird.
°
Die Anleitung erfolgt in der Regel durch fünf Haus-
besuche in zunehmend größeren Intervallen inner-
halb von sechs Monaten, die durch telefonische
Betreuung unterstützt wird.
Ein Beispiel für eine
Gleichgewichtsübung aus
dem Otago-Übungsprogramm.
Rückwärtsgehen mit Abstützen
Zwei Beispiele für
Kräftigungsübungen
aus dem Otago-
Übungsprogramm
1...,8-9,10-11,12-13,14-15,16-17,18-19,20-21,22-23,24-25,26-27 30-31,32