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physio
austria
inform
Februar 2012
Themenschwerpunkt
Geriatrie
Hochbetagte PatientInnen leiden oft an einer Vielzahl von
Krankheiten, Schmerzen und Einschränkungen. Sie haben
individuelle Lebenserfahrungen und sind meist eng an ihre
vertraute Umgebung und ihre Angehörigen gebunden.
Mobile PhysiotherapeutInnen sind dabei wichtige und
kompetente PartnerInnen. Leider wird mobile Therapie
viel zu selten verschrieben.
Hochentwickeltes Expertentum in der Medi-
zin und Medizintechnologie haben enormen
Fortschritt im Kampf gegen Krankheiten ge-
bracht. Die Zahl der Personen, welche an
Spätfolgen chronischer Krankheiten, dege-
nerativen Prozessen oder bleibenden Behin-
derungen multimorbid leiden, steigt stetig.
Für diese Bevölkerungsgruppe stellt weder
die moderne, evidenzbasierte, kurative Medi-
zin noch der pathogenetisch orientierte Prä-
ventionsansatz ausreichend professionelle
Unterstützung zur Verfügung.
Die Geriatrie ist eine fächerübergreifende
medizinische Disziplin, die optimale interdis-
ziplinäre Zusammenarbeit fordert. Um den
Bedürfnissen der Betroffenen gerecht wer-
den zu können, muss das persönliche Um-
feld der PatientInnen miteinbezogen werden.
Betreuungsprogramme für zu Hause sollen
rechtzeitig vorhandene Ressourcen einset-
zen und fördern, an realistischen Zielen ar-
beiten und vor allem in partnerschaftlicher
Weise professionelle Arbeit anbieten.
Empowerment- und Efficacy- sind Konzepte
aus der Sozialforschung und zielen auf Stär-
kung und Optimierung von Ressourcen in
belasteten Situationen ab. Die WHO verlangt
in der Ottawa-Charta (1986) die Arbeit an
gesundheitsfördernden Lebenswelten im
»Setting Ansatz«. Dies ist ein Auftrag an die
medizinischen Berufe, sich mit Gesundheit
und Krankheit im Lebensraum der PatientIn-
nen auseinanderzusetzen. Einschlägige
Studien besagen, dass medizinische Inter-
ventionen und Therapien nur als hilfreich
erlebt werden, wenn die Kommunikation
empathisch und symmetrisch ist und die
eigenen Ressourcen und Leistungen komple-
mentär ergänzt werden. Weiters muss die
Erreichbarkeit gegeben und aufsuchende
Unterstützung möglich sein. Die betroffene
Personen und ihre Angehörigen und nicht die
messbare Leistung müssen im Mittelpunkt
stehen.
Daraus ergibt sich eindeutig ein Auftrag für
die physiotherapeutische Arbeit mit geriatri-
schen PatientInnen in ihrem eigenen zu
Hause. Die TherapeutInnen sollten Wissen
aus komplementären, psychosozialen Berei-
chen sowie Grundwissen der Palliation und
Salutogenese mitbringen. Spezialwissen und
-techniken verlieren dagegen mit fortschrei-
tender Multimorbidität an Bedeutung. Die
professionelle Arbeit soll sich an den Bedürf-
nissen und Ressourcen der Betroffenen
orientieren, diese nicht durch eigene, hohe
Leistungsansprüche überfordern, aber auch
nicht mögliche Hilfe verweigern oder uner-
reichbar machen.
Der physiotherapeutische Prozess als Kern-
kompetenz bietet den idealen Rahmen für
die professionelle, geriatrisch-physiothera-
peutische Arbeit im häuslichen Bereich.
Innerhalb dieses Rahmens zeigen sich aller-
dings große Unterschiede zu anderen
Einsatzbereichen der Physiotherapie.
Die Probleme sind vielschichtig und oft erst
nach längeren Gesprächen fassbar. Prioritä-
ten müssen gesetzt werden. Ehrliches Kom-
munizieren ist besonders wichtig. Häufig
steckt hinter einem Problem die tiefe Trauer
über den Verlust von Fähigkeiten. Die Mobili-
tät nimmt ab, die PatientInnen können ihre
täglichen Verrichtungen immer schwerer und
oft nur mit Schmerzen erledigen, selbst in
Ruhe treten Beschwerden auf. Die Autono-
mie ist bedroht und gleichzeitig steigt die
Seltene Therapie in den
eigenen vier Wänden
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