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Februar 2012
25
»Der alte Mensch ist ein Gewohnheitstier«,
»Einen alten Baum soll man nicht verpflan-
zen«, »Ein Leben lang macht man den selben
Fehler« – Sätze wie diese kann man als
Aphorismen sehen. Fachlich ausgedrückt
bedeuten diese Sprüche aber: Im Alter
versteifen sich die Charakterzüge. Man lebt
im Altzeitgedächtnis. Die Adaptionszeit ist
verlängert.
Viele BetreuerInnen leiden unter den
Verhaltenssituationen, die für für den alten
Menschen jedoch normal scheinen. Alte
Menschen nehmen an für sie wichtigen
Therapien nicht teil. Sie setzen Medikamente
oder die Weiterführung der Therapie nach
einem Krankhausaufenthalt sofort ab. Rat-
schläge und Empfehlungen werden vernach-
lässigt. Dies ist oftmals in dem Phänomen
des subjektiven Freiheitsgewinns begründet
und wird in jungen Jahren attribuiert. Daher
ist es wichtig, Verhaltensnormen und Soziali-
sationssituationen aus der Jugend des nun
siebzig, achtzig oder neunzig jährigen zu
kennen.
Folgendes Beispiel für eine Biografie: Herr S.
wurde auf Grund einer Hautschädigung der
Beine durch eingewachsene Socken in das
Bein an der Dermatologischen Abteilung des
Universitätsklinikums Salzburg aufgenom-
men. Die Nachbarn schildern die Wohn-
situation von Herrn S. sehr dramatisch.
Herr S. wohne in einem Bungalow, in dem
dieser stark verwahrlost lebe – so deren
Sicht. So sei kein Toilettenanschluss vorhan-
den, so dass Herr S. die anfallenden Fäkalien
in Kübeln sammelt und bei Gelegenheit im
Garten entsorgt. Im Haus kann nur durch
Treppengänge von einem Zimmer in das
Andere gewechselt werden. Das Bad, im
Souterrain gelegen, sei nicht benützbar.
Die Nachbarn wollten Herrn S. behilflich sein
und organisierten einen extramuralen Pflege-
dienst, der nach Begutachtung Herrn S. als
verwahrlost und ad-hoc einen massiven
hygienischen Missstand diagnostizierte.
Mit all diesen Missständen konfrontierte der
Pflegedienst Herrn S. und verlangte
die sofortige Aufnahme ins Krankenhaus.
Herr S. willigte in eine Krankenhausauf-
nahme ein, eine Betreuung durch den
extramuralen Verein lehnte er ab.
BIOGRAFIEN
Klaus G. Kessler, MSc
Oral History
Herr S. ist ein Einzelkind, lebte bis zum Tod
der Mutter mit dieser zusammen. Herr S.
besuchte die Höhere Technische Lehranstalt
in Salzburg, wurde Baumeister und arbeitet
bis nach seiner Pensionierung als Gutachter.
Die Mutter war nie verheiratet, sie starb vor
ca. 25 Jahren. Noch heute hängen im
Schrank die Kleider der Mutter. »Ach wis-
sen’s, meine Mutter war eine patente Frau,
die wusste alles besser.« Herr S. war nie ver-
heiratet und hat keine Kinder. Er lebt alleine
auf dem Grundstück und umgibt sich mit
hochwertigen technischen Geräten – die al-
lesamt veraltet und teilweise unbrauchbar
sind. »Man soll nur gute Sachen kaufen, hat
die Mutter gesagt«. »Schaun
s meine Ribisel
an, die wachsen und gedeihen, nur mit dem
natürlichen Dünger.« Hier zeigt er auf den
vor der Veranda stehenden Fäkalienkübel.
Das Wegräumen oder besser gesagt die
Sanierung des Wohnraumes kommentiert er
mit den Worten. »Warum zusammenräumen,
es ist alles so schön.« »Wenn alles anders ist,
wie kann ich dann noch leben, aber
schaun
s meine Geräte an – die haben Be-
stand!«
Hermeneutik
Herr S. befindet sich im Powerneed. Internal
attribuiert hat er die Mutter – Ohnmachtsge-
fühl. Eine motivationale und emotionale Ein-
schränkung ist explorierbar. Eine kognitive
Einschränkung ist insofern nachweisbar,
dass Herr S. nicht lernen will (kann), mit der
geänderten Situation umzugehen. In Betreu-
ungssituationen äußern sich Verhaltens-
auffälligkeiten oftmals in einem vermehrten
Aufwand und wenn nur mit somatischen
Modellen reagiert wird, sind meist ein
Informationsverlust und ein mangelnder
Betreuungserfolg damit verbunden. Determi-
nistische Analysen interpretieren nur Sicht-
bares, die psychische Entwicklung von
Symptomen wird so oftmals außen vor gelas-
sen. Die Frage nach dem »Warum« wird aus
Sicht des Verfassers viel zu wenig gestellt.
Viele Probleme im Alter, die zur Beeinträchti-
gung der Lebensführung führen, können
durch Biografiearbeit in ihren Ursachen ver-
standen und gelindert werden. Besonders in
einem Zeitalter der Pluralität von Lebens-
stilen und sich wandelnder Lebenswelten ist
Biographieforschung eine wichtige Methode,
um sich den Lebensgeschichten der Betreu-
ten anzunähern und dadurch ressourcen-
orientiertes Betreuen durch Aktualisieren
vergangener Lebensbewältigungen und die
Einbeziehung dieser in den gegenwärtigen
Kontext zu ermöglichen.
Hermeneutisches Verstehen gilt als Grund-
lage, dies meint das Erfassen menschlicher
Lebensäußerungen durch wertfreies Verste-
hen. (Dilthey, 1923). Die Biografieforschung
knüpft mit dem biographischen Erzählen an
die Alltagskommunikation von Menschen an.
Sie ermöglicht einen Zugang zur sozialen
Wirklichkeit des/der Betreuten. Das Ein-
lassen auf die Sichtweise und Situationsdefi-
nition der PatientInnen, ohne vorschnell
Hypothesen und Lösungen anzubieten,
sondern die Lösungen aus den Biografien
der Betroffenen wieder hervorzuholen. Das
fachliche Fundament lässt sich grob mit vier
wissenschaftlichen Anschauungen erläutern:
Hermeneutischer Ansatz
Empirisch – analytischer Ansatz
Marxistischer Ansatz
Strukturalistischer Ansatz
Gerade in der Behandlung von kognitiv
dekompensierten PatientInnen ist es not-
wendig die Lebensgeschichte des Menschen
zu berücksichtigen. Diese ermöglicht dem
Fachmann/frau einen Zugang auf Altge-
dächtniszeitebene. Denn Handlungen sind
bei kognitiv eingeschränkten Menschen nur
aus dem Altzeitgedächtnis zu erreichen.
LITERATUR
DILTHEY, W. (1923).
Ideen über eine beschreibende
und zergliedernde Psychologie.
(Bd. 5). Leipzig: Teubner.
HERKNER, W. (2001).
Lehrbuch Sozialpsychologie
(Bd. 2.unveränd. Auflage).
Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber.
KESSLER, K. G. (2011).
Die gelernte Hilflosigkeit im Pflegealltag,
Anspruch - Herausforderung - Lösungsansatz.
Saarbrücken: VDM.
LAMNEK, S. (2008).
Qualitative Sozialforschung: Lehrbuch.
(4. vollst. überarb. Ausg.). Weinheim: Beltz.
WERNET, A. (2009).
Einführung in die Interpretationstechnik
der objektiven Hermeneutik.(3. Auflage).
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Hilfreiches Wissen über
die Geschichte von PatientInnen
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