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Februar 2012
INFORM
Es gibt in unserer Gesellschaft einen Zwang
zur Jugendlichkeit, man könnte fast sagen
Jugendwahn. Wie ist Ihre Position aus Sicht
des Philosophen?
UNIV.-PROF. IR DR. GÜNTHER PÖLTNER
Die grundlegende Einsicht ist, dass sich das
menschliche Leben zeitlich erstreckt. Jeder
Mensch durchlebt gewisse Lebensphasen
wobei jede einzelne ihren Sinn in sich hat.
Schon von daher ist es äußerst problema-
tisch, die einzelnen Phasen gegeneinander
auszuspielen und eine zur maßgeblichen zu
erklären. Wir durchleben zwar bestimmte
Phasen, seien es etwa die Jugend oder das
hohe Alter, jedoch ist in jeder Phase das
ganze Leben präsent. Der, der ich gewesen
bin, ist ja nicht vergangen. Die gewesenen
Phasen sind immer da. Sie beschränken die
Möglichkeiten oder eröffnen auch neue
Wege. Das Problem mit dem Alter ist: Man
kann nur in menschlicher Weise alt werden,
wenn man sein Leben angenommen hat.
Wer mit seinem Alter ein Problem hat – und
ich rede jetzt nicht von Altersbeschwerden –
der sollte sich fragen, ob er sein Leben ange-
nommen hat.
INFORM
Was bedeutet das?
PÖLTNER
Zu einem gelungenen Leben gehört
die Selbstannahme. Das heißt, man muss
das ganze Leben annehmen – mit allen
Phasen, auch die, die erst kommen. Man
sollte sich also darauf vorbereiten, dass
man nicht ewig 30 ist. Jede Lebensphase
hat ihre eigene Bedeutung. Wir alle wissen:
Wer eine schreckliche Kindheit durchleben
musste, der hat später Probleme. Da jede
Phase ihre eigene Aufgabe hat, darf man
sie nicht gegeneinander aufrechnen. Es ist
schlimm, wenn man das auch noch ökono-
misch ausnützt. Ein Beispiel: Auf jeder
Reklame lächelt die mit dem Computer
perfektionierte Superfrau. Das wird richtig
ausgeschlachtet. Das ist aber nicht eine
Form der Annahme der Lebensphase,
sondern die restlose Funktionalisierung
auf die Ökonomie.
INFORM
Warum tun wir uns als Gesellschaft so
schwer mit dem Altern?
PÖLTNER
Wir leben in einer Gesellschaft, in der
sich das Individuum gegen gewisse Trends
nur schwer behaupten kann. Das beginnt
schon in der Schule, wenn alle ein Handy
haben – nur ich nicht. Wie hält man das
durch? Es gibt so etwas wie ein gesellschaft-
liches Bewusstsein, dass es einem manch-
mal erschwert, gewisse Einsichten zu
verwirklichen. Der Grund ist, dass das
Leistungsdenken im Vordergrund steht:
Wir haben verlernt, zu realisieren, dass alles,
was uns menschlich weiterbringt, – ich sage
das bewusst pathetisch – immer auch den
Charakter einer Gabe, eines Geschenks hat.
Wir haben Zeit, weil uns Zeit zu leben gege-
ben ist. Dieser Charakter ist völlig ver-
schwunden: Wir glauben, dass wir alles
selber machen können.
INFORM
Was bedeutet das für die Medizin?
PÖLTNER
In der modernen Medizin gibt es den
Begriff der »Natur« nicht mehr. Natur heißt
ja, es passiert von selbst. Es ist nicht der
Arzt, der einen heilt. Der Arzt sorgt maximal
dafür, dass die Natur ihr Ziel, nämlich die
Gesundheit, erreichen kann. Jeder Therapeut
und jede Therapeutin weiß das. Gerade der
Therapeut, der unmittelbar mit Menschen
arbeitet, weiß, was Natur ist. TherapeutInnen
können helfen, aber wenn die Natur nicht
will, nützt es nichts. Wir haben uns ange-
wöhnt, die Natur nur mehr nach dem
Geschichtspunkt ihrer Beherrschbarkeit zu
betrachten. Dass die Natur auch ihren
Eigenwert hat, ist uns erst durch die öko-
logische Krise wieder bewusst geworden.
Themenschwerpunkt
Geriatrie
»Wer ein Problem mit dem Alter hat,
hat sein Leben nicht angenommen«
Philosoph Dr. Günther Pöltner über den herrschenden
Jugendwahn, die finale Lebensphase und das Problem
der Gesellschaft mit dem Altern.
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