inform Nr.4 September 2014 - page 28

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physio
austria
inform
September 2014
Themenschwerpunkt
Berufsbild Physiotherapie
inform
Diese inform-Ausgabe ist dem Schwerpunkt
Berufsbild Physiotherapie gewidmet. Wo steht der Beruf
PhysiotherapeutIn jetzt und wo sehen Sie ihn in fünf
bis zehn Jahren?
Silvia Mériaux-Kratochvila
Derzeit ist die Physio-
therapie im Wandel weg von einem Beruf, der im Bereich
der Krankenbehandlung noch stark an Verordnungen
und Zuweisungen von Ärzten gebunden ist. Im Moment
hält das Thema Evidenzorientierung stark Einzug und ist
gemeinsam mit dem Bereich Qualitätssicherung bereits
sehr prominent im Bewusstsein der PhysiotherapeutIn-
nen verankert. In fünf bis zehn Jahren gehe ich davon
aus, dass die Themen Orientierung an der wissenschaft-
lichen Evidenz und die Qualitätsorientierung selbst-
verständliche Elemente des physiotherapeutischen
Handelns sind. Ich glaube auch, dass es zu einer größe-
ren Balance zwischen Behandlungen in physiotherapeu-
tischen Praxen und Hausbesuchen kommen wird, die
sicher zunehmen werden. Generell wird der extramurale
Bereich wachsen und der intramurale Bereich stagnie-
ren. Was die Tätigkeit betrifft, bin ich davon überzeugt,
dass es zu einer deutlicheren Spezialistenentwicklung
kommen wird. Das wird sich auch in der akademischen
Weiterbildung niederschlagen. Die Forschungsaktivitä-
ten werden zunehmen – allerdings nicht in dem Tempo,
wie es in anderen Ländern selbstverständlich ist. Dazu
ist die Struktur mit ihren selbstfinanzierten Forschungs-
einrichtungen einfach nicht angetan.
Was wäre aus Ihrer Sicht in diesem Zusammenhang
wünschenswert? Was wäre ihr Wunschfahrplan,
etwa im Bereich Bildung?
Es gibt Masterangebote, die ausschließlich auf die
Physiotherapie fokussieren, aber erst ganz wenige.
Wichtig wäre, dass die Masterangebote im Bereich
der Physiotherapie breiter werden und nicht die Hürde
haben, viel Geld zu kosten weil sich das viele nicht
leisten. Fakt ist auch, dass es in der Physiotherapie
keine etablierten Karrieremodelle per se gibt, was be-
deutet, dass es auch keinen großen Anreiz gibt, diese
Masterangebote zu absolvieren. Die große Mehrheit der
PhysiotherapeutInnen ist primär an der Arbeit mit den
PatientInnen interessiert. Das Interesse, sich aus-
schließlich der Forschung zuzuwenden ist nicht in dem
Maß da, wie es in anderen Berufen selbstverständlich
ist, wo die Forschung gleichberechtigt neben anderen
Tätigkeiten etabliert ist.
Was ist in der Rückschau bisher besonders gelungen?
Der Beruf hat sich sehr frühzeitig emanzipiert – im Sinne
eigenständiger Untersuchung und Behandlungsplanung.
Es ist so, dass PhysiotherapeutInnen über eine Expertise
verfügen, die im ärztlichen Bereich in dieser Breite und
Tiefe de facto nicht besteht. PhysiotherapeutInnen sind
eine Berufsgruppe, die größten Wert darauf legt, selbst
Therapieprozesse gestalten zu können. Was auch sehr
gut gelungen ist zu etablieren, dass Weiterbildung etwas
Zentrales für den Beruf und die Behandlungen von Pa-
tientInnen ist. Ich glaube auch, dass es gut gelungen ist,
den Beruf in der öffentlichen Wahrnehmung als
attraktiv und wertgeschätzt zu positionieren.
Zu bewerkstelligen, dass die rechtlichen Rahmen-
bedingungen passen, ist oft das Ergebnis harter
Überzeugungsarbeit bei den Verantwortungsträgern.
Wie sehen Sie die Rolle von Physio Austria in diesem
Zusammenhang?
Die Physiotherapie war auch gegenüber den anderen
medizinischen Berufen immer federführend in Öster-
reich wenn es darum ging, sich als eigenständiger Beruf
zu etablieren. Das hat schon Anfang der 60er Jahre
begonnen, wo sich KollegInnen mit großem Engagement
dafür eingesetzt haben. Wir waren bereits zwei Jahre
nach der Gründung des Berufsverbandes Teil des Welt-
verbandes. Es gab immer PhysiotherapeutInnen, die sich
mit aller Kraft für die Berufsentwicklung und die rech-
lichen Rahmenbedingungen intensiv eingesetzt haben –
mit Erfolg. Die Physiotherapie hatte zum Beispiel das
erste vom Bundesministerium für Gesundheit bewilligte
Ausbildungscurriculum, das auf der Grundlage des
Engagements von KollegInnen basierte. Dieser große
Einsatz, EntscheidungsträgerInnen zu überzeugen, hat
nie aufgehört. Auch dass dieses Engagement immer
ehrenamtlich war und ist, muss an dieser Stelle unter-
strichen werden. Durch die ehrenamtliche Struktur
bleibt auch viel Geld, das von den Mitgliedern kommt,
für diese Arbeit über. Der Mitgliedsbeitrag wird zum
Jahresende angepasst – da stellt sich die Frage was
mit dem Geld der Mitglieder passiert.
Der Mitgliedsbeitrag von 320 Euro pro Jahr ab 2015
stellt tatsächlich keinen Bagatellbetrag dar. Man muss
aber bedenken, was damit alles geleistet wird! Es gelingt
uns sehr viel Servicierung für Mitglieder zu bieten, Quali-
tätssicherung sowie eine Entwicklung, Gestaltung und
Optimierung der beruflichen Rahmenbedingungen, mit
dem Ziel, einen attraktiven Beruf ausüben zu können.
»Wie die Spitze
des Eisbergs«
Silvia Mériaux-Kratochvila, M.Ed. im Gespräch
mit inform über beinharte Vertretungsarbeit,
den direkten Zugang zu Physiotherapie und
die Leistungen von Physio Austria.
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