physio
austria
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Juni 2012
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TANZTRAINING
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Juni 2012
Die Beckenbodenmuskulatur steht in struktureller und
funktioneller Verbindung mit der umgebenden Becken-
muskulatur, wie zum Beispiel dem M. obturatorius
internus, einem der kurzen Außenrotatoren des Hüft-
gelenks. Dieser Zusammenhang ist von großer Bedeu-
tung für die Stabilität der Hüftgelenke und in Folge für
eine korrekte Beinachse. Durch eine gemeinsame
Funktion mit dem M. transversus abdominis und dem
Zwerchfell spielt der Beckenboden außerdem eine
tragende Rolle für eine stabile Körpermitte.
Für eine gesunde Tanztechnik ist es Grundvorausset-
zung, dass TänzerInnen mit korrekter Beinachse und
stabiler Körpermitte trainieren. Aufgabe von Tanz-
pädagogInnen beziehungsweise TrainerInnen, aber
auch der behandelnden PhysiotherapeutInnen ist es,
die Wahrnehmung für die eigene Beckenmuskulatur
und den Beckenboden zu schulen.
Folgende Übungsinstruktionen sind hierbei behilflich
(Sie sind herzlich dazu eingeladen, die beschriebenen
Übungen gleich selbst auszuprobieren):
Wahrnehmung der kurzen Hüftaußenrotatoren
Die TänzerInnen beginnen mit der bewussten Lokali-
sation wichtiger Ursprungs- und Ansatzstellen der
Beckenmuskulatur, bei der zum Beispiel die großen
Rollhügel, die Sitzbeinhöcker und das Kreuzbein
ertastet werden. Anschließend werden im Stehen
oder in Seitenlage durch eine isometrische Span-
nungsübung in Hüftbeugung und -außenrotation
(einem »Passé« in Tanzsprache) die kurzen Hüft-
außenrotatoren aktiviert und erspürt.
Wahrnehmung des Beckenbodens
für eine gesunde Tanztechnik
Die TänzerInnen beginnen im Stehen mit der Vorstel-
lung, eine Perle (oder Ähnliches) mit den Schamlippen
beziehungsweise dem After sanft zu umfassen, und
die Perle bis hinter den Nabel zur Wirbelsäule hoch-
zuheben, ohne die Luft anzuhalten. Mit einer Hand
auf dem Unterbauch lässt sich erspüren, wie sich der
Bauch nach innen oben aufrichtet.
Mit der Vorstellung, die großen Rollhügel (Trochanter
major) in Richtung Kreuzbein zu bewegen, aktivieren
wir nun zusätzlich die kurzen Hüftaußenrotatoren, die
Oberschenkel verschrauben sich leicht nach außen.
Mit der Instruktion, nun die Sitzbeinhöcker zu den Fersen
zu bewegen, präsentieren die TänzerInnen mit minimaler
Muskelaktivität ein korrektes Plié (Kniebeuge), Relevé
(Zehenstand) oder einen Sprung. Mit korrekter Ausfüh-
rung können hierbei sowohl eine stabile Beinachse als
auch eine stabile Körpermitte beobachtet werden.
Werden die TänzerInnen instruiert, die Perle »fallen« zu
lassen, können sie beobachten, wie die Fußgewölbe
einsinken, die Knie vermehrt in Varusstellung tendieren
und das Becken nach vorne kippt.
Solche oder ähnliche Übungen und Vorstellungsbilder
nutzen wir sowohl im Training als auch in der Physio-
therapie, um TänzerInnen eine Vorstellung zu geben,
wie sie ihre Tanztechnik positiv beeinflussen können.
Auf diese Weise kann Fehlhaltungen und Kompensations-
mechanismen vorgebeugt werden. Eine positive Folge
dessen ist die Reduktion von Verletzungen und Über-
lastungsbeschwerden.
In der tanzmedizinischen Tätigkeit ist ein interdisziplinärer
Austausch von großer Bedeutung. PhysiotherapeutInnen
und TanzpädagogInnen beziehungsweise TrainerInnen
lernen, in derselben Sprache mit den TänzerInnen zu
sprechen. Sie tauschen untereinander relevante Informa-
tionen aus, wie zum Beispiel über typische Kompensa-
tionsmechanismen und deren Prävention.
PhysiotherapeutInnen erhalten von TanzpädagogInnen
beziehungsweise TrainerInnen wertvolle Hinweise über
trainingsspezifische Defizite ihrer PatientInnen. Von der
TänzerInnenseite aus betrachtet ist die Rehabilitation
nach Verletzungen eine Absprache über die im Training
möglichen beziehungsweise noch zu unterlassenden
Bewegungen und hilfreich für die schrittweise Wieder-
eingliederung der TänzerInnen in ihren Berufsalltag.
Interdisziplinäre Kommunikation ist auch mit allen ande-
ren Berufsgruppen, die TänzerInnen auf ihrem Weg zu
einer erfolgreichen, gesunden Tanzkarriere begleiten,
von großer Bedeutung. All diese Berufsgruppen mit-
einander zu vernetzen, ist eines der Ziele von tamed e. V.,
dem größten deutschsprachigen Verein für Tanzmedizin.
In Wien begegnen sich interessierte Personen im kleinen
Rahmen bei wissenschaftlichen Foren, Vorträgen oder
Workshops.
Themenschwerpunkt
Sportphysiotherapie
TänzerInnen beeindrucken das Publikum mit körperlich herausfordernden
Bewegungen. Es erfordert jahrelanges Training, um den Körper in Höchstform
zu bringen. Besonders eindrucksvoll ist die erreichte Flexibilität und
Koordination. Allerdings ermöglicht erst der präzise und ausdauernde Einsatz
der stabilisierenden Muskulatur eine gesunde Beanspruchung des tänzerischen
Körpers. Die Beckenmuskulatur ist hierfür von zentraler Bedeutung.
Anita Kiselka
Physiotherapeutin,
seit 2009, Master of Science in
Physiotherapie, links im Bild,
Leitung der Arbeitsgruppe Team
tamed Österreich, Mitglied der
Physio Austria Fachgruppe
Uro-Prokto-Gynäkologie und
Geburtshilfe.
Judith Elisa Kaufmann,
Direktorin Body, rechts im Bild
Art & Expression, Schule für
darstellende Kunst & Akademie
für Ballettpädagogik. Ehemalige
klassische Tänzerin und Schau-
spielerin; Autorin, Regisseurin,
Choreografin und Ballettmeisterin
in D, GB und Ö. Mitglied in der
Arbeitsgruppe Team tamed
Österreich
Fotos: Monika Siller
LITERATUR
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Anita Kiselka, MSc, PT und Judith Elisa Kaufmann
Mit Stabilität im
Becken zu tänzerischen
Höchstleistungen
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