physio
austria
inform
Juni 2012
19
18
physio
austria
inform
Juni 2012
Themenschwerpunkt
Sportphysiotherapie
Um jedoch der so vielschichtigen und komplexen
Thematik der Schulterrehabilitation gerecht zu werden,
müsste man ein Buch schreiben – was Diemer et Sutor
2010 auch höchst erfolgreich machten. Trotz allem
sollen hier Studien zu einem der häufigsten Symptome
im Sport – dem subacromialen Impingement-Syndrom
(Crawshaw et al., Diemer et Sutor, Kachingwe et al.,
Kromer et al., Michener et al., Senbursa et al., u. v. m.) –
aufgezeigt werden, ihre Datenlage überprüft werden.
Auch wenn die Pathogenese von Impingement-Patholo-
gien sehr vielfältig und teilweise hochkomplex ist, da
es sich um kein Krankheitsbild, sondern um ein häufig
auftretendes Symptom – einer pathologischen Einklem-
mung von Weichteil- und Knochenstrukturen im Schul-
terbereich – handelt (Diemer und Sutor 2010), gibt es
einige Studien zu diesem Thema in der Schulterrehabili-
tation. Allerdings muss dem/der PhysiotherapeutIn die
Ursache des Impingement-Syndroms und die daraus
entstehenden Folgen bewusst sein, um eine optimal
angepasste Physiotherapie gewährleisten zu können.
So hat etwa Kromer et al. 2009 in einem Systematic
Review die Effektivität der Physiotherapie bei PatientIn-
nen mit subacromialen Impingement-Syndrom (SIS)
untersucht und konnte die moderate Evidence für Phy-
siotherapie aufzeigen. Vor allem die zusätzliche Anwen-
dung von manuellen Techniken zur Mobilisation des
Glenohumeralgelenks sowie spezifisch angeleitetes phy-
siotherapeutisches Training konnten als positiv belegt
werden. Valide Ergebnisse in diesem Review konnten
vor allem hinsichtlich der Verbesserung des Schmerz-
zustands der PatientInnen erzielt werden. Außerdem
konnte aufgezeigt werden, dass physiotherapeutisches
Training vor einer Operation diese sogar verhindern
kann. Ein weiteres Ergebnis der einzelnen Studien war,
dass die Adaptierung an den/die PatientIn sehr wichtig
erschien, die angewandten manuellen Therapietechni-
ken auf den Zustand des/der PatientIn abgestimmt
werden müssen, was jedoch die Vergleichbarkeit der
Studien beziehungsweise sogar die Vergleichbarkeit der
PatientInnen innerhalb einer Studie oft erschwert.
Da die Autoren feststellen mussten, dass Physiotherapie
bei Impingement-Symptomen häufig die erste Behand-
lung der Wahl – vor allem im Sport – darstellt, ist eine
fortführende Studie von Kromer et al. 2010 derzeit im
Laufen und soll 2012/2013 veröffentlicht werden. Es
handelt sich hierbei um eine Randomised Controlled
Trial, in der die Effektivität von individueller Physiothera-
pie am Schultergelenk im Vergleich zu einem vorgegebe-
nen Standard-Trainingsprogramm, welches ohne
Anleitung selbständig durchgeführt wird, überprüft
werden soll.
Betrachtet man weitere vorliegende Studien, so fällt auf,
dass vor allem im Bereich der manuellen Therapietech-
niken sowie der aktiven Therapien – dem gezielten
Training des Schultergelenks und der Schultergürtel-
muskulatur – Evidence-überprüfte Therapieansätze
vorliegen. Dies ist vor allem im Sport von großer Bedeu-
tung, denn umso gezielter und rascher Therapien
eingesetzt werden können, desto kürzer sind die Ausfall-
szeiten für den/die SportlerIn und für die Vereine.
So wurden in der vergleichsweise älteren Studie von
Bang et Deyle 2000, die aber bei anderen Autoren
immer wieder erwähnt wird, aber auch bei Kachingwe
et al 2008 sowie bei Senbursa et al. 2011 die Effektivität
der manuellen Therapie und der Trainingstherapie bei
subacromialem Impingement untersucht.
Karin Tresohlavy, MSPhT,
ist an der FH Gesundheitsberufe
in Oberösterreich, Studiengang Physiothe-
rapie Steyr tätig. Zusätzlich freiberuflich
tätig in der Praxis MoveYou, Steyr. Sie ist
seit 2003 Sportphysiotherapeutin (SPT
Education Salzburg). Abschluss Master of
Sportsphysiotherapy (Universität Wien)
Jänner 2010. Mitglied und stellvertretende
Leitung in der Physio Austria
Fachgruppe Sportphysiotherapie.
SCHULTER
Karin Tresohlavy, MSPhT, PT
Je nach Studiendesign wurden hier manuelle Therapie-
techniken zur Mobilisation des Schultergelenks (aus
Maitland-, Kaltenborn- und Cyriaxkonzept) eingesetzt
und diese dann kombiniert mit einem vom/von der
PhysiotherapeutIn angeleiteten/supervidierten Training.
Vergleichend dazu wurde ein selbständig durchgeführtes,
nur teilweise instruiertes Training untersucht.
Bang et Deyle 2000
2 Gruppen
1
Interventionsgruppe: manuelle Mobilisation
GHG (MT) + supervidiertes Training
2
Kontrollgruppe: nur supervidiertes Training
Kachingwe et al. 2008
4 Gruppen
1
supervidierte Trainingsgruppe
2
supervidiertes Training + manuelle Mobilisation
GHG (MT)
3
supervidiertes Training + manuelle Mobilisation
GHG mit Bewegung (MWM – mobilisation with
movement)
4
Kontrollgruppe: nur Rat vom Arzt
Senbursa et al. 2011
3 Gruppen
1
supervidierte Trainingsgruppe
2
Supervidiertes Training + manuelle Mobilisation
GHG (MT)
3
Nur Durchführung eines Heimtrainings-
programmes
Die Messparameter aller drei Studien waren sehr ähnlich:
°
Es wurde die Visual Analog Scale (VAS) für die
Untersuchung des Nacht- Ruhe- und Bewegungs-
schmerzes herangezogen.
°
Es wurde die schmerzfreie Range of Motion (ROM)
mittels Goniometer gemessen.
°
Es wurde die Kraft mittels Dynamometer bzw.
der Kraftmessung nach Dr. Lovett eruiert.
°
Es wurden spezifische Schulterfunktionsassessments
wie der SPADI (Shoulder and Pain Disability Index)
und der MASES (modified American Shoulder and
Ellbow Surgeon) eingesetzt.
Ergebnisse der Studien
Bang et Deyle 2000:
Bei allen vier Messparametern konnte in beiden Gruppen
eine Verbesserung festgestellt werden. Es kam jedoch nur
in jener Gruppe, die MT + Training absolvierte, zu einer
wirklich signifikanten Verbesserung.
Kachingwe et al 2008:
Es kam in allen vier Gruppen zu einem signifikanten Rück-
gang der Schmerzen, wobei jene Gruppen prozentuell die
stärkste Verbesserung zeigten, die MT + Training (also
Gruppe 2 und 3) absolvierten. Ebenso konnte vor allem in
diesen beiden Gruppen eine Verbesserung des schmerz-
freien ROMs erzielt werden – hier vor allem in Gruppe 3
(supervidiertes Training + manuelle Mobilisation GHG
mit Bewegung (MWM – mobilisation with movement).
Und auch das eingesetzte Schulterassessment, der
SPADI, konnte die signifikante Verbesserung der Schulter-
funktion vor allem in den Interventionsgruppen (Gruppen
1–3) zeigen. Gruppe 4, die nur den Rat des Arztes erhielt,
konnte sich funktionell kaum verbessern.
Senbursa et al 2011:
Hier kam es in allen Gruppen zu einer Verbesserung von
Schmerz, von ROM, von Funktion (sogar im signifikanten
Bereich) und der Kraft, es gab nach zwölf Wochen keine
signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen
Gruppen. Allerdings ist bei dieser Studie anzumerken,
dass es bei der ersten, nach vier Wochen durchgeführten
Messung der einzelnen Parameter zu einem hervor-
stechenden Ergebnis kam. Denn bei den Nacht- und Ruheschmerzen
konnte bei jener Gruppe, die MT + Training durchführte (Gruppe 2),
eine viel schnellere und deutlichere Verbesserung erzielt werden als
in den anderen beiden Gruppen.
Die Autoren kamen hinsichtlich ihrer Ergebnisse alle zu einer sehr
ähnlichen Conclusio:
°
Prinzipiell ist ein supervidiertes Training bei PatientInnen mit sub-
acromialem Impingement Syndrom zur effektiven Heilung optimal.
Dieses sollte angeleitet, kontrolliert und auch zu Hause selbstän-
dig durchgeführt werden.
°
Um jedoch die schnellste und größte Effektivität vor allem bei der
Schmerz- und der Funktionsverbesserung zu erzielen, empfiehlt
sich ein supervidiertes Training mit zusätzlich eingesetzten manu-
ellen Therapietechniken am Schultergelenk.
°
Durch eine frühe Schmerz- und Funktionsverbesserung bei zu-
sätzlich eingesetzter MT kommt es zu einer rascheren Regenera-
tion – was vor allem auch im Sport von großer Bedeutung ist.
Denn es kommt dadurch zu einem rascheren Wiedereinstieg in
den Sport, zu einer rascheren Leistungssteigerung.
Zur Diskussion gestellt wird allerdings, ob durch diese Interventionen
die Zeitdauer der Behandlung, der Therapie verkürzt werden kann und
somit auch die Kosten gesenkt werden können. Ein weiteres eindeu-
tig einheitliches Ergebnis bei allen Autoren ist, dass weitere qualitativ
hochwertige Langzeitstudien und Randomized Controlled Trials durch-
geführt werden müssten. Der am öftesten erwähnte Satz in Conclu-
sios und Diskussionen lautet wie von Kromer et al 2009 zum Beispiel
beschrieben: »There is an urgent need for more high-quality randomi-
zed controlled trials in this field.«
Nach wie vor wird in der Physiotherapie oft die Frage gestellt: Evidenz
– JA oder NEIN? Die Meinungen dazu sind sehr unterschiedlich – und
doch werden wir nicht umhinkönnen, Forschungsergebnisse auch in
der Physiotherapie kritisch wahrzunehmen, denn sie sind ein wesent-
licher Bestandteil evidenzbasierter Praxis. Evidenzbasierte Praxis
findet laut Scherfer, E. 2006 vor allem da statt, wo PraktikerInnen
Entscheidungen über Untersuchungen und/oder Interventionen
treffen können und sollen. Denn nur dann kann eine individuelle
Anpassung der Therapie an den/die PatientIn passieren, Evidence
Based Medicine soll und darf keine »Schema F«-Behandlung sein, es
soll nur – wie bereits erwähnt – das Beste aus der jeweils passenden
Forschung praktisch an PatientInnen angewandt werden.
Vor allem auch in der Schulterrehabilitation ist es wichtig, die Indivi-
dualität eines/einer jeden PatientIn mit einzubeziehen und die indivi-
duell vorliegenden Schulterbeschwerden beziehungsweise deren
Ursachen zu erkennen und zielgerichtet zu therapieren.
Auch wird es für die Physiotherapie immer wichtiger, im Ablauf der
Therapie, der Befundung, valide Assessments einzusetzen, um vor
allem eine Funktionsverbesserung messbar machen zu können. Hier
können als einfach und valide die in den oben eingesetzten Studien
verwendeten Assessments erwähnt werden: der Shoulder and Pain
Disability Index, kurz SPADI, und der modified American Shoulder and
Ellbow Surgeon, kurz MASES. Um ein ganzheitlicheres Bild über die
Schmerzen und Behinderungen im Alltag bei Schulterbeschwerden zu
bekommen, können diese Fragebogen herangezogen werden. (Lüthi,
HJ. 2007; Michener et al. 2002; Widmer Leu, C. 2007 )
Trotz allem wissen wir nach wie vor nicht, wie die Komplexität des
menschlichen Körpers funktioniert, und daher bleibt es auch schwie-
rig, unterschiedliche Therapiemaßnahmen miteinander zu verglei-
chen. Die Anzahl der Parameter, die die Therapie beeinflussen
können, ist enorm groß, teilweise fehlt uns noch das Wissen darum,
wie gesetzte Therapiereize auf den Körper einwirken – welche Verän-
derungen sie bewirken. Wir sollten uns daher bewusst sein, dass die
EBM eigentlich nur ein hypothetisches Erklärungsmodell sein sollte
(van den Berg, F. 2011)
Und so wird auch in Zukunft eines wichtig sein:Wie kann man der
EBM gerecht werden, ohne die Physiotherapie infrage zu stellen?
Fotos: Karin Tresohlavy
1,2-3,4-5,6-7,8-9,10-11,12-13,14-15,16-17 20-21,22-23,24-25,26-27,28-29,30-31,32