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austria
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Februar 2015
19
AUSBILDUNG
Markus Martin
BEISPIEL 2
Die Kontinenzschwester hat häufig, oft täglich, Kontakt
mit betroffenen PatientInnen – dort ist weniger Zeit als
bei der Physiotherapie für Einzelaufgaben aber anderer-
seits mehr Kontinuität. Gäbe es eine Möglichkeit diese
und das Engagement dieser PflegerInnen im Rahmen
einer interdiziplinären PatientInnenbetreuung zu
nützen? Wie in der ÄrztInnenschaft scheint es auch in
der Physiotherapie mitunter mehr Angst als Mut für
die Interdisziplinarität zu geben, die heutzutage immer
auch InterprofessionalitätMultiprofessionalität verlangt.
Interdisziplinarität in den eigenen Reihen?
Der Beruf des Physiotherapeuten/der Physiotherapeu-
tin ist ja eigentlich in sich selbst Interdisziplinarität
schlechthin. Haltung und Atmung, Bewegung und
Stabilität, Durchblutung und Leistung – alles nur opti-
mal, wenn von Kopf bis Fuß »geschaut wird«. Und doch
titulieren sich mittlerweile KolegInnen als »Hand-«,
»Kiefer-« oder gar »AtlastherapeutInnen«. Es fällt nicht
schwer, sich vorzustellen, dass es in der Zukunft »Lum-
bal-SpezialistInnen«, »Hüft-Physios« usw. geben kann.
Welchen Bedarf nach Interdisziplinarität produzieren
wir damit selbst?
BEISPIEL 3
EinE PatientIn mit Schmerzen im coccygialen Bereich
wird hoffentlich auf eineN PhysiotherapeutIn mit Schwer-
punkt Orthopädie treffen, die/der daran denkt, dass es
auch beckeninterne Störungen sein können, die dies
hervorrufen, respektive wenn er/sie auf eineN
Uro-Prokto-Gyn-SpezialisiertIn trifft, dass dieseR
auch mögliche ISG-Irritationen im Hinterkopf hat.
Schon gehört/schon vergessen, dass
a
Verkürzungen im Hüftbeugebereich zu migräne-
ähnlichen Zuständen führen können?
b
ein fixierter Schultergürtel zu Sehnenüberlastungen
im Handbereich aber auch zu Lumbalschmerzen
führen kann?
c
eine Insuffizienz des M. levator ani durch eine
Irritation des M. obturatorius internus entstehen
kann?
Auch methodische Spezialisierungen liefern
nur begrenzte »Ganzheitlichkeit«
Die vielen Richtungen der Osteopathie, manuellen
Techniken oder Trainingskonzepte zeigen nicht minder
ihre Begrenztheit auf – zu komplex ist der menschliche
Organismus, als dass mit Spezialisierung auf eine
Methode oder Teildisziplin allumfassend geholfen werden
könnte. »Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht
in jedem Problem einen Nagel« schrieb Paul Watzlawick.
Je größer also die Spezialisierung desto mehr erfordert
es einen interdisziplinären Ansatz.
Ausblick
In der Geschichte der Hirnforschung gibt es über die
Jahrhunderte eine interessante Parallele zu den aktuellen
Technologietheorien: Rechenmaschine, Computer,
Netzwerklogik etc.
Bei der Physiotherapie haben wir die alte, auf mechani-
schen Grundsätzen beruhende »Kraft = Gesundheit«-
Gleichung weit hinter uns gelassen. Die Reflexion der
»neuro-muskulären Zusammenhänge« war bahnbrechend
in den 70er Jahren für die moderne Physiotherapie und
die sich anschließende Entwicklung wissenschaftlicher
Arbeitsweisen. Den heutigen Hype stellen die Faszien
dar. Das Tensegrity-Modell – vielleicht auch ein Modell
für zukünftige Interdisziplinarität? Zusammenarbeit in
einem sich gegenseitig stützenden aber auch modulie-
renden Netzwerk? Spezialisierung als Teil eines
Geflechtes verschiedener Disziplinen und Professionen,
anpassungsfähig entsprechend der Erfordernisse.
Mit dem Ziel, gemeinsam zu wirken – FachkollegInnen
hinzu- oder zu Rate ziehen. Statt immer weiter reduzie-
rend und trennend zu agieren, integrativ tätig sein und
gemeinsam nach optimalen Lösung suchen… für das
Ganze, den Menschen.
Durch Reduktion die Wahrheit entdecken oder aus dem
Auge verlieren?
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