Viele PalliativpatientInnen werden jedoch nicht in der
spezialisierten Versorgung betreut, sondern in der Grund-
versorgung (Akutspital, durch HausärztInnen oder in
Pflegeheimen) behandelt. Die Interdisziplinarität stellt
sich z.B. auf einer Akutstation eines Krankenhause aus
Sicht der Physiotherapie ganz anders dar und verlangt
ein sehr hohes Maß an Eigenständigkeit und Erfahrung,
um die Säulen der Palliative Care – skills, knowledge &
attitude – beinahe als EinzelkämpferIn ein- und umsetzen
zu können.
Die vorrangige Zielsetzung im Akutspital ist es, die
PatientInnen so schnell wie möglich in gebessertem,
wenn nicht sogar geheiltem Zustand wieder nach Hause
zu entlassen. Der Aufenthalt dient vornehmlich diagnosti-
schen und kurativen Zwecken. Bei onkologischen Patien-
tInnen, die den größten Anteil der PalliativpatientInnen
auf einer Lungenabteilung neben Personen, die an fort-
geschrittener COPD oder Lungenfibrose leiden, ausma-
chen, stellt sich die Situation allerdings anders dar. Die
durchgeführten Chemotherapien oft in Kombination mit
Strahlentherapie bringen selten eine Heilung der Betrof-
fenen und werden daher entweder abgebrochen oder als
palliative Maßnahmen weitergeführt.
In sogenannten Tumorboards wird von Seiten der ÄrztIn-
nen »interdisziplinär« besprochen, welche Optionen für
die Behandlung der Betroffenen zur Verfügung stehen.
Dieses »interdisziplinäre« Team ist jedoch nicht multipro-
fessionell zusammengesetzt und besteht in der Regel nur
aus PulmologInnen, OnkologInnen, StrahlenmedizinerIn-
nen und ChirurgInnen. In die getroffenen Entscheidungen
fließen meist die Ergebnisse der bildgebenden Verfahren
und Laborparameter ein, sowie das vom/von der stati-
onsführenden Arzt/Ärztin beschriebene klinische Bild.
Die Meinung und Wahrnehmungen anderer mit den
PatientInnen befassten Berufsgruppen wie Pflege oder
Physiotherapie, in manchen Fällen auch von der Sozial-
arbeit oder Psychotherapie - so vorhanden und in die
Betreuung miteingebunden - kommen dann zum Tragen,
wenn sie von ärztlicher Seite eingebracht werden. Die
Arbeit der PhysiotherapeutInnen ist daher oft reaktiv,
da sie in die Entscheidungsfindung nicht einbezogen
wurden, falls die PatientInnen überhaupt zugewiesen
wurden. In der Regel ist zu beobachten, dass dann eine
Zuweisung zur Physiotherapie erfolgt, wenn ein Sekret-
problem vorliegt oder die PatientInnen auf Grund von
Metastasen in Knochen oder im Gehirn andere, nicht
pulmologische Symptome wie Gangunsicherheit, Läh-
mungserscheinungen, Bewegungseinschränkungen
oder auch Schmerzen zeigen. Beim Symptom Schmerz
werden meist zuerst noch SpezialistInnen aus der
Schmerzambulanz hinzugezogen. Für die adäquate
physiotherapeutische Betreuung stellt diese Situation
mit mangelndem Informationsfluss und nicht sehr ausge-
prägtem Wissen über und Verständnis für die palliativen
Betreuungsmöglichkeiten eine gewisse Herausforderung
dar. Interdisziplinäres Arbeiten wird dann möglich,
wenn »Verbündete« identifiziert werden können und eine
Palliativ- und Kommunikationskultur in kleinem Kreis
entstehen kann. Als guter Weg, um dahinzukommen,
stellt sich die regelmäßige Teilnahme an Visiten heraus.
Einerseits ist damit gesichert, mit geringem Zeitaufwand
auf dem aktuellen Wissenstands bzgl. der PatientInnen zu
sein, und andererseits kann durch gezielte Fragestellung
bzw. das Aufzeigen physiotherapeutischer Behandlungs-
möglichkeiten das Behandlungs- und Betreuungsteam
der Betroffenen zumindest um die Physiotherapie erwei-
tert werden. Im Zuge dieser Visiten stellt sich auch relativ
schnell heraus, welches Mitglied der ÄrztInnenschaft
palliativmedizinisch interessiert oder auch ausgebildet
ist bzw. wer von Seiten der Pflege ebenso denkt und zu
handeln bereit ist.
Gleichgesinnte finden dann immer wieder zwischen »Tür
und Angel« oder bei kurzen Besprechungen im Dienstzim-
mer die Möglichkeit, sich auszutauschen oder sich doch
auch zu interprofessionellen Besprechungen im kleinen
Kreis (ÄrztInnenschaft, Pflege, Physiotherapie, Sozialar-
beit und auf der Lungenabteilung auch relativ häufig mit
der Diätologie) zusammenzusetzen, um die weitere Vor-
gangsweise festzulegen und die nächsten Schritte und
Therapiemaßnahmen interdisziplinär zu planen. Gelegent-
lich fällt auch die Entscheidung, den palliativmedizini-
schen Konsiliardienst hinzu zu ziehen oder einen Antrag
auf Übernahme auf die Palliativstation zu stellen. Dies ist
v.a. dann der Fall, wenn die Komplexität der Problematik
so groß ist, dass dies adäquate Betreuung auf einer Akut-
station nicht mehr bewerkstelligt werden kann.
Hierarchische Strukturen sind auf der Akutstation oft
noch deutlich ausgeprägt und können das interdisziplinäre
Arbeiten genauso erschweren, wie die meist fehlenden
interdisziplinären Besprechungen und Planungen im multi-
professionellen Team. Fehlende Struktur- und Prozess-
qualitätskriterien tragen den Rest dazu bei und machen
gelebte Interdisziplinarität zu einem »Kann-Kriterium«.
Aus Sicht der Physiotherapie bedeutet dies, dass es nicht
klar ist, dass bei mangelnden Ressourcen diese überhaupt
in die Betreuung der PalliativpatientInnen einbezogen
wird oder dass bekannt ist, was diese leisten kann.
Die Zielsetzung der Physiotherapie in der Behandlung von
PalliativpatientInnen auf einer Akutstation ist dieselbe
wie auf der Palliativstation – Symptomkontrolle und Symp-
tomlinderung. Können die zuweisenden ÄrztInnen davon
überzeugt werden, dass PhysiotherapeutInnen über hohe
Fachkompetenz und palliatives Know How verfügen,
werden die Betroffenen zu palliativen Maßnahmen zuge-
wiesen, sodass angepasst an die täglichen Bedürfnisse
behandelt werden kann. Rückmeldungen im Rahmen der
Visite durch die PatientInnen selbst oder die TherapeutIn-
nen geben Auskunft über die Wirksamkeit und Zufrieden-
heit mit den gesetzten Maßnahmen und ermöglichen eine
weitere interdisziplinäre Planung unter Einbeziehung der
Betroffenen quasi an der Bettkante.
Diese Form von interdisziplinärem Gespräch gemeinsam
mit den PatientInnen hatte z.B. zur Folge, dass sich die
Colonmassage inzwischen als eine beliebte, oft angeord-
nete Therapiemaßnahme etabliert hat. Die Frage: »Soll ich
es mit einer Colonmassage versuchen?« wurde nach
mehrfach positiven Echo über die rasch einsetzende Wir-
kung von Betroffen durch den Satz: »Ich glaube, das ist
ein Fall für dich. Könntest du bitte hier auch eine Colon-
massage machen?« ersetzt.
Ein wesentlicher Faktor der Interdisziplinarität in der Be-
treuung von PalliativpatientInnen stellt die Kommunikation
dar – unabhängig davon, ob die Betroffenen in der spezia-
lisierten Versorgung oder in der Grundversorgung be-
handelt werden. PhysiotherapeutInnen sind Teil dieses Be-
handlungsteams und bringen sich mit Fachkompetenz und
ihrer palliativen Grundeinstellung ein. Wechselt nun einE
PatientIn von der Akutstation auf die Palliativstation ist in-
tradisziplinäre Zusammenarbeit gefordert, damit die Über-
nahme und Weiterbehandlung reibungslos stattfinden und
notwendige hochspezialisierte Maßnahmen weitergeführt
werden können.
Themenschwerpunkt
Physiotherapie und Interdisziplinarität
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