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physio

austria

inform

Dezember 2016

Die Menge des unfreiwilligen Harnverlusts kann durch

den »Vorlagentest« erfasst werden. Hierzu wird die

Vorlage im trockenen Zustand gewogen und mit dem

Gewicht der eingenässten Vorlage verglichen. Ein Milli-

gramm Mehrgewicht entspricht einem Milliliter Harn-

verlust. Die Tests können als Langtest (24 Stunden) oder

Kurztest (eine Stunde) durchgeführt werden. Auch wenn

der Test wenig befriedigende wissenschaftliche Qualität

zeigt, wird er doch als ein im Alltag der Physiotherapie

einfach durchzuführendes und für die PatientInnen gut

umsetzbares Assessment eingesetzt.

Untersuchen und Beurteilen der Intaktheit von

Funktionen im Beckenboden- und Rumpfbereich

Für die Erfassung des vaginalen Ruhetonus stehen

mehrere standardisierte Skalen zur Verfügung:

Devreese’s tonicity scale, Reissing’s tonicity scale,

Dietz’s tonicity scale. Alle Skalen verwenden eine digitale

Untersuchungsmethode. Es werden die Elastizität,

Stiffness und die Reaktion auf Dehnung der Vaginalwand

in den drei Etagen der Beckenbodenmuskulatur unter-

sucht und quantifiziert. Diese Untersuchungen sind

vor allem bei Retentionssymptomen sowie Schmerzen

im Uro-Genitalbereich wichtig. Die Skalen zeigen

moderate bis hohe Intertester Reliabilität.

Für die Erfassung von Lage, Intaktheit und Morphologie

der Beckenmuskulatur verwenden sowohl die Methode

nach Dietz als auch der LAM (Levator ani muscle) attach-

ment grading scale vaginale Verfahren der Palpation und

erheben die Trophik und die Intaktheit der Levatorschen-

kel. Dietz et al. (2012) konnten hohe Konstruktvalidität

(Korrelation zu Ultraschalluntersuchung) nachweisen.

Beide Techniken zeigen eine ausgezeichnete Intertester-

Reliabilität. Diese Untersuchungen sind insbesondere bei

Frauen nach Geburten bedeutsam, da sie mögliche Ver-

letzungen der tiefen Beckenmuskulatur erfassen und so

im therapeutischen Prozess die Prognose beeinflussen.

Tests und Assessments in der

Arbeit mit Kontinenzstörungen

Zentrale Ziele physiotherapeutischer Untersuchungen

Beeinträchtigungen der Kontinenz mindern die Lebens-

qualität und das Selbstwertgefühl der Betroffenen in

hohem Maße. Die Untersuchung des Beckenbodens

nimmt einen wichtigen Teil der physiotherapeutischen

Kontinenzarbeit ein. Inkontinenzsymptome und Organ-

senkung korrelieren erwiesenermaßen mit einem Verlust

an struktureller und funktioneller Integrität des neuro-

myofaszialen Systems der pelvinen Diaphragmen und

des Sphinkterkomplexes. Entsprechende Defizite werden

durch eine Kombination von Befunden aus der Inspektion

und Palpation des uro-prokto-genitalen Beckenbereichs

und Assessments zur Erfassung der Lebensqualität (QoL)

erhoben. Es stehen standardisierte und validierte

Assessments zur Verfügung.

Quantitative und qualitative Erfassung

des Symptoms Inkontinenz

Die Arbeitsgruppe International Consultation on Inconti-

nence Modular Questionnaire (ICIQ) wurde 1998 mit dem

Ziel gegründet, standardisierte Fragebögen zu entwickeln

und zu validieren sowie diese weltweit für die Erfassung

der Probleme der unteren Harnwege, von Darmfunktions-

störungen und Störungen im Genitalbereich zur Ver-

fügung zu stellen. Aktuell stehen aus der ICIQ-Gruppe

in bis zu 18 Sprachen übersetzte Fragebögen für zwölf

unterschiedliche klinische Krankheitsbilder zur Ver-

fügung. Alle Fragebögen erfassen objektive und subjek-

tive Parameter des Krankheitsgeschehens und der

Lebensqualität. Baessler und Kempkensteffen erstellten

und validierten den »Deutschen Beckenbodenfrage-

bogen« zur Erfassung von Blasen-, Darm-, Deszensus-

und von sexuellen Problemen und deren Auswirkung

auf die Lebensqualität bei Männern und Frauen. Im Ge-

gensatz zu den Fragebögen der ICIQ-Gruppe ist dieses

Instrument sehr umfassend und zeitaufwändig. Beide

Assessment-Bögen können jedoch gut selbstständig von

KlientInnen ausgefüllt werden und sind daher in der

Praxis leicht einsetzbar.

Das Miktionstagebuch erfasst die Abweichungen im

Harnverhalten über ein 24-Stunden-Protokoll. Trink-

und Harnmengen werden gemessen und notiert. Zudem

wird dargestellt, ob die Miktion durch einen Drang

initiiert worden ist. Die Anzahl und Größe verwendeter

Hilfsmittel wird aufgeführt und die Menge des Harnver-

lustes quantifiziert. Die ausgeführten Alltagsaktivitäten

werden im Tagesablauf notiert. Diese Aufzeichnungen

können interpretiert werden und erfassen die Art der

Kontinenzstörung und das Ausmaß der Dysfunktion der

Ausscheidungsorgane. Miktionstagebücher sind wert-

volle Erstbefunde und sehr gute Möglichkeiten der

Verlaufstestung.

Fokus

Qualität

Kontinenzstörungen können unterschiedliche Ursachen haben und gehen mit

einer Vielzahl von strukturellen und funktionellen Störungen der myofaszialen

Anteile des Beckens sowie der Beckenorgane einher. PhysiotherapeutInnen

stehen eine Auswahl an Testverfahren zur Verfügung, die eine genaue Unter-

suchung der Intaktheit von Kontinenzmechanismen sowie der Auswirkung

von Kontinenzstörungen bei täglichen Aktivitäten und in der individuellen

Partizipation ermöglichen.

Hypothese 1

Die stabilisierende und reaktive Funktion des Becken-

bodens in Bezug auf die Lagesicherung der Organe ist

bei niederem Tonus reduziert und begünstigt die Belas-

tungsinkontinenz. Ein erhöhter Tonus führt zu Störungen

der Trophik, fördert Triggerpunktbildung und Schmerz.

Hypothese 2

Die Verletzung der Beckenbodenmuskulatur führt

zu einer Asymmetrie im Beckenring und zu einem

Stabilisationsverlust der Beckenorgane.