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Dezember 2015
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Im Laufe der letzten zwanzig Jahre hat sich im
Bereich der Wissenschaft und Forschung zum
Thema Clinical Reasoning sehr viel getan.
Es kann von einer wesentlichen Weiterentwick-
lung für den Berufsstand der Physiotherapie
gesprochen werden.
In der bereits 1992 erschienenen Publikation von Mark
Jones zum Thema »Clinical Reasoning in Manual Therapy«
wird die Notwendigkeit eines reflexiven Prozesses im
Rahmen des klinisch-wissenschaftlich orientierten
PatientInnen-Managements dargestellt. Clinical Reaso-
ning (CR) wird dabei als kognitiv gesteuerter Vorgang
im Zuge der Evaluierung und der Behandlung von Patien-
tInnen definiert. Dabei wird darauf verwiesen, dass das
Ziel dieses Prozesses eine effektive Behandlung des
jeweiligen Problems der PatientInnen ist und diese pri-
mär durch fortlaufende Reflexion und deren Evaluierung
möglich ist. CR ist weder als Begrifflichkeit noch in Form
seiner Durchführung ein für die Physiotherapie allein
angewandter Prozess. Auch in anderen medizinischen
Bereichen ist CR ein fester Bestandteil klinischer und
diagnostischer Denkvorgänge.
Der medizinische Bereich muss sich nach wie vor das
Vorurteil gefallen lassen, primär mittels biomedizinischen
Hintergrund, d.h. diagnostischem Reasoning, zu arbeiten.
Dies besteht allerdings zu Unrecht. Neben den Diszipli-
nen Ergotherapie, Physiotherapie, Krankenpflege und
der der Hebammen bedient sich auch die medizinische
Community vermehrt des biopsychosozialen Denkmo-
dells. Vor allem in den Bereichen Psychiatrie, Neurologie
und in der Behandlung von Menschen mit chronischen
Schmerzsyndromen wird dieses Konzept vermehrt ange-
wandt, um auf die individuellen Bedürfnisse der PatientIn-
nen in einem interdisziplinären Setting einzugehen.
Die Implementierung der International Classification of
Function, Disability and Health (ICF) in die Behandlung
und Rehabilitation erfüllt dabei zusätzlich den Anspruch
einer ganzheitlichen Herangehensweise.
Praktiziert wird CR auf unterschiedliche Art und Weise.
Auf Grund der hohen Praktikabilität und der bestehenden
Evidenz hat sich jedoch der hypothetisch-deduktive Vor-
gang durchgesetzt. Dieser auf Hypothesen aufgebaute
Denkprozess erfordert das primäre Sammeln von Infor-
mationen zur Bildung von Überlegungen, um in weiterer
Folge diese aufgestellten Hypothesen zu testen, zu über-
prüfen und im jeweiligen Falle zu bestätigen oder zu
verwerfen.
Herausforderungen der Anwendung
Im Rahmen der Lehre erweist sich die Vermittlung schein-
bar logischer und für fortgeschrittene TherapeutInnen
klarer Abläufe nicht immer als einfach. Neben dem ersten
kognitiven Schritt, die Abläufe zu verstehen und vernet-
zende Zusammenhänge, zumindest theoretisch, zu erken-
nen, kommt es in weiterer Folge zur Umsetzung an den
jeweiligen Praktikumsstellen. Dabei sind die Studiengänge
auf die Unterstützung engagierter PraktikumsanleiterInnen
angewiesen, welche die erlernten Inhalte mit den Studie-
renden anwenden und etwaige Lernschritte wiederum
evaluieren. Wesentlich erscheint hierbei eine regelmäßige
Kommunikation zwischen Praktikumsstellen und Fach-
hochschulen, basierend auf dem gegenseitigen Verständ-
nis – klinischer Alltag und Praxis im Gegenzug zu
Grundausbildung und Lehre.
Man kann zum Schluss kommen, dass trotz des langen
Bestehens und auch der dementsprechenden Forschung
zu CR in den Gesundheitsberufen nach wie vor ein gewis-
ses Unverständnis und eine Scheu vor derartigen Abläufen
besteht. Je weiter man sich als PhysiotherapeutIn in Rich-
tung ExpertInnenstadium bewegt, umso schneller laufen
klinische Denkprozesse ab. Dies bedeutet nicht automa-
tisch eine Steigerung der Genauigkeit im Rahmen der klini-
schen Kompetenz. Im Gegenteil birgt das sogenannte
Muster-Erkennen (pattern recognition) die Gefahr, wesent-
liche Fakten zu übersehen. Um genau das zu verhindern,
wird Bachelor-AbsolventInnen die Möglichkeit einer mög-
lichst umfassenden Befunderhebung nach hypothetisch-
deduktivem Ansatz mitgegeben.
Begleitende Reflexion
Als eine Kernkompetenz der Praktikumsstellen ist nun
die begleitende Reflexion im Rahmen eines Fehler- und
Stärkenfindungsprozesses zu sehen. In der Rolle der
ExpertInnen im fachlichen, aber auch kommunikativen,
kollaborativen und empathischen Sinne leben Praktikums-
betreuerInnen mehrere Kompetenzen vor, welche im
Unterricht an der Fachhochschule oft gar nicht in dem
Sinne erfüllt werden können. Erst im direkten PatientIn-
nenKontakt können die angesprochenen Social Skills
und natürlich auch technische Fertigkeiten angewandt
(reflection in action) und im Anschluss gemeinsam
(reflection on action), unter anderem an Hand des CR-
Prozesses, reflektiert werden.
Abschließend gilt es auf Grund der gemachten Erfahrungen
zu erheben, welche Kompetenzen postgraduell zusätzlich
erworben werden können, um einerseits die eigenen klini-
schen Fähigkeiten zu verbessern und gleichzeitig Studie-
rende in ihrem Praktikum gut und sicher zu begleiten. Aus
diesem Grund wird in den nächsten Monaten per Fragebo-
gen durch die FH Joanneum in Graz der Status Quo zu die-
sem Thema erhoben. Es soll dabei die Frage beantwortet
werden, wie PhysiotherapeutInnen CR wahrnehmen und
wovon sie vor allem im klinischen Alltag profitieren. Ziel ist
dabei eine Darstellung der Wertigkeit und des Verständnis-
ses dieser Denkvorgänge. CR erhebt schließlich nicht nur
den Anspruch, PatientInnen in deren Gesamtheit zu erfas-
sen und zu behandeln, sondern auch das eigene therapeu-
tische Tun kritisch und fortlaufend zu reflektieren und zu
bewerten.
Beate Salchinger, MSc MSc, Bernhard Taxer, MSc
DENKMODELL
Beate Salchinger, MSc MSc, Bernhard Taxer, MSc