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physio

austria

inform

Dezember 2015

35

Im Laufe der letzten zwanzig Jahre hat sich im

Bereich der Wissenschaft und Forschung zum

Thema Clinical Reasoning sehr viel getan.

Es kann von einer wesentlichen Weiterentwick-

lung für den Berufsstand der Physiotherapie

gesprochen werden.

In der bereits 1992 erschienenen Publikation von Mark

Jones zum Thema »Clinical Reasoning in Manual Therapy«

wird die Notwendigkeit eines reflexiven Prozesses im

Rahmen des klinisch-wissenschaftlich orientierten

PatientInnen-Managements dargestellt. Clinical Reaso-

ning (CR) wird dabei als kognitiv gesteuerter Vorgang

im Zuge der Evaluierung und der Behandlung von Patien-

tInnen definiert. Dabei wird darauf verwiesen, dass das

Ziel dieses Prozesses eine effektive Behandlung des

jeweiligen Problems der PatientInnen ist und diese pri-

mär durch fortlaufende Reflexion und deren Evaluierung

möglich ist. CR ist weder als Begrifflichkeit noch in Form

seiner Durchführung ein für die Physiotherapie allein

angewandter Prozess. Auch in anderen medizinischen

Bereichen ist CR ein fester Bestandteil klinischer und

diagnostischer Denkvorgänge.

Der medizinische Bereich muss sich nach wie vor das

Vorurteil gefallen lassen, primär mittels biomedizinischen

Hintergrund, d.h. diagnostischem Reasoning, zu arbeiten.

Dies besteht allerdings zu Unrecht. Neben den Diszipli-

nen Ergotherapie, Physiotherapie, Krankenpflege und

der der Hebammen bedient sich auch die medizinische

Community vermehrt des biopsychosozialen Denkmo-

dells. Vor allem in den Bereichen Psychiatrie, Neurologie

und in der Behandlung von Menschen mit chronischen

Schmerzsyndromen wird dieses Konzept vermehrt ange-

wandt, um auf die individuellen Bedürfnisse der PatientIn-

nen in einem interdisziplinären Setting einzugehen.

Die Implementierung der International Classification of

Function, Disability and Health (ICF) in die Behandlung

und Rehabilitation erfüllt dabei zusätzlich den Anspruch

einer ganzheitlichen Herangehensweise.

Praktiziert wird CR auf unterschiedliche Art und Weise.

Auf Grund der hohen Praktikabilität und der bestehenden

Evidenz hat sich jedoch der hypothetisch-deduktive Vor-

gang durchgesetzt. Dieser auf Hypothesen aufgebaute

Denkprozess erfordert das primäre Sammeln von Infor-

mationen zur Bildung von Überlegungen, um in weiterer

Folge diese aufgestellten Hypothesen zu testen, zu über-

prüfen und im jeweiligen Falle zu bestätigen oder zu

verwerfen.

Herausforderungen der Anwendung

Im Rahmen der Lehre erweist sich die Vermittlung schein-

bar logischer und für fortgeschrittene TherapeutInnen

klarer Abläufe nicht immer als einfach. Neben dem ersten

kognitiven Schritt, die Abläufe zu verstehen und vernet-

zende Zusammenhänge, zumindest theoretisch, zu erken-

nen, kommt es in weiterer Folge zur Umsetzung an den

jeweiligen Praktikumsstellen. Dabei sind die Studiengänge

auf die Unterstützung engagierter PraktikumsanleiterInnen

angewiesen, welche die erlernten Inhalte mit den Studie-

renden anwenden und etwaige Lernschritte wiederum

evaluieren. Wesentlich erscheint hierbei eine regelmäßige

Kommunikation zwischen Praktikumsstellen und Fach-

hochschulen, basierend auf dem gegenseitigen Verständ-

nis – klinischer Alltag und Praxis im Gegenzug zu

Grundausbildung und Lehre.

Man kann zum Schluss kommen, dass trotz des langen

Bestehens und auch der dementsprechenden Forschung

zu CR in den Gesundheitsberufen nach wie vor ein gewis-

ses Unverständnis und eine Scheu vor derartigen Abläufen

besteht. Je weiter man sich als PhysiotherapeutIn in Rich-

tung ExpertInnenstadium bewegt, umso schneller laufen

klinische Denkprozesse ab. Dies bedeutet nicht automa-

tisch eine Steigerung der Genauigkeit im Rahmen der klini-

schen Kompetenz. Im Gegenteil birgt das sogenannte

Muster-Erkennen (pattern recognition) die Gefahr, wesent-

liche Fakten zu übersehen. Um genau das zu verhindern,

wird Bachelor-AbsolventInnen die Möglichkeit einer mög-

lichst umfassenden Befunderhebung nach hypothetisch-

deduktivem Ansatz mitgegeben.

Begleitende Reflexion

Als eine Kernkompetenz der Praktikumsstellen ist nun

die begleitende Reflexion im Rahmen eines Fehler- und

Stärkenfindungsprozesses zu sehen. In der Rolle der

ExpertInnen im fachlichen, aber auch kommunikativen,

kollaborativen und empathischen Sinne leben Praktikums-

betreuerInnen mehrere Kompetenzen vor, welche im

Unterricht an der Fachhochschule oft gar nicht in dem

Sinne erfüllt werden können. Erst im direkten PatientIn-

nenKontakt können die angesprochenen Social Skills

und natürlich auch technische Fertigkeiten angewandt

(reflection in action) und im Anschluss gemeinsam

(reflection on action), unter anderem an Hand des CR-

Prozesses, reflektiert werden.

Abschließend gilt es auf Grund der gemachten Erfahrungen

zu erheben, welche Kompetenzen postgraduell zusätzlich

erworben werden können, um einerseits die eigenen klini-

schen Fähigkeiten zu verbessern und gleichzeitig Studie-

rende in ihrem Praktikum gut und sicher zu begleiten. Aus

diesem Grund wird in den nächsten Monaten per Fragebo-

gen durch die FH Joanneum in Graz der Status Quo zu die-

sem Thema erhoben. Es soll dabei die Frage beantwortet

werden, wie PhysiotherapeutInnen CR wahrnehmen und

wovon sie vor allem im klinischen Alltag profitieren. Ziel ist

dabei eine Darstellung der Wertigkeit und des Verständnis-

ses dieser Denkvorgänge. CR erhebt schließlich nicht nur

den Anspruch, PatientInnen in deren Gesamtheit zu erfas-

sen und zu behandeln, sondern auch das eigene therapeu-

tische Tun kritisch und fortlaufend zu reflektieren und zu

bewerten.

Beate Salchinger, MSc MSc, Bernhard Taxer, MSc

DENKMODELL

Beate Salchinger, MSc MSc, Bernhard Taxer, MSc