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physio
austria
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Juni 2017
Themenschwerpunkt
Gendermedizin in der Physiotherapie
Wandel zum Alter
Die Bedeutung der Gendermedizin in der Geriatrie
Medizin war ursprünglich eine männerbesetzte Domäne.
Erst seit zirka 100 Jahren ist es Frauen in Österreich er-
laubt, Medizin zu studieren. Die Schulmedizin war lange
Zeit sehr stark auf Männer fokussiert, Frauen wurden als
»kleine Männer« betrachtet und die damalige Frauenmedi-
zin war weitgehend auf die Reproduktion im Sinne der
Frauenheilkunde und Geburtshilfe beschränkt. Die Gen-
dermedizin hat sich aus der Frauengesundheitsbewegung
der 1970er-Jahre heraus entwickelt, ursprünglich mit der
Intention der Selbstbestimmung. In den 1990ern war in
weiterer Folge die Sensibilisierung dafür, dass Frauen bis-
her aus großen klinischen Studien ausgenommen waren,
die getesteten Medikamente aber gleichermaßen beiden
Geschlechtern verabreicht wurden – ohne Rücksicht-
nahme auf geschlechtsdifferenzielle biogenetische,
psychische und soziale Unterschiede – ein großes Thema.
Erst 2002 wurde von der WHO eine Gender Policy einge-
führt, aufgrund derer genderspezifische Analysen in Bezug
auf Gesundheit in den Gesundheitssystemen installiert
und Gesundheitsdaten nach Geschlecht getrennt erhoben
und ausgewiesen wurden. In Österreich ist Gendermedizin
heute an allen Universitäten im Lehrangebot, ebenso
gibt es ein Masterstudium, welches von der MedUni Wien
berufsbegleitend angeboten wird. Um die geschlechterdif-
ferenzierte Datenerhebung in Österreich weiter voranzu-
treiben, wird vom Bundesministerium für Gesundheit und
Frauen jährlich der »Gender Index« zur Verfügung gestellt.
Er gibt einen Überblick über geschlechtsspezifisch aufge-
schlüsselte Daten in wesentlichen Bereichen wie Bildung,
Einkommen und Erwerbstätigkeit.
Konform der demografischen Entwicklung liegt eine Ver-
schiebung der Altersstruktur in Richtung einer deutlichen
Zunahme der Bevölkerung, die älter als 65 Jahre ist, im
Trend. Frauen haben eine höhere Lebenserwartung als
Männer, ebenso sind diese häufiger als pflegende Angehö-
rige tätig und so auch im Alter aufgrund der Determinante
der Mehrbelastung eine vulnerable Bevölkerungsgruppe
in Bezug auf Gesundheit. Weitere Faktoren wie Bildung
und Einkommen spielen dabei ebenso eine Rolle.
Wurden z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen lange Zeit
Männern zugeschrieben, so ist heute bekannt, dass auch
Frauen gleichermaßen betroffen sind, aber zum Beispiel
bei einem Herzinfarkt ein anderes Bild als Männer (in Form
von Rückenschmerzen) zeigen können. Am Beispiel der
Osteoporose, die lange Zeit als reine Frauenerkrankung
eingestuft wurde, wird deutlich, dass auch Männer von
der Entwicklung der Gendermedizin profitieren. So wurden
erst in den letzten 15 Jahren Männer als Osteoporose-
patienten erkannt und auch in Screening-Prozessen
berücksichtigt. Aufgrund der unterschiedlichen Alterungs-
prozesse, Hormonspiegel und auch soziopsychologischer
Unterschiede brauchen Frauen wie Männer eine ent-
sprechend angepasste medizinische Betreuung.
Gendermedizin in der Geriatrie
Es ist nicht verwunderlich, betrachtet man die »Feminisie-
rung des Alters«, dass die Gendermedizin auch in der
Geriatrie zunehmend Berücksichtigung findet. In der
physiotherapeutischen Praxis ist die Behandlung alters-
assoziierter, degenerativer Veränderungen und Funktions-
einschränkungen Alltag. Wesentlich ist, dabei die grund-
sätzlichen, geschlechtsspezifischen Unterschiede in
Symptomatik bei geriatrischen Krankheitsbildern zu ken-
nen und in der Therapie zu berücksichtigen. Wenngleich
Frauen derzeit noch eine höhere Lebenserwartung als
Männer besitzen (diese befindet sich bereits in einem
Annäherungsprozess), weisen sie dennoch häufiger funk-
tionelle Einschränkungen aufgrund chronischer Erkrankun-
gen im Zuge geriatrischer Symptomkomplexe auf. Am
Beispiel der Verrichtung der Aktivitäten des täglichen
Lebens (ATL) wurde in der Berliner Altersstudie aufgezeigt,
dass Frauen im Alter von 80 Jahren doppelt so viel Unter-
stützungsbedarf bei der Durchführung derselben hatten
wie gleichaltrige Männer. Frauen über 65 stürzen bei-
spielsweise häufiger als Männer, somit steigt auch das
Risiko einer Fraktur (vorrangig im Hüftbereich) und damit
das Risiko einer möglichen Immobilität. Es droht der Ver-
lust einer weitgehend autonomen Lebensführung.
Die vor allem im vergangenen Jahrhundert erlangten Erkenntnisse in der Humanmedizin,
dass Krankheiten und Störungen Männer und Frauen sowohl in Prävalenz als auch
Ausprägung unterschiedlich (be)treffen können, finden zunehmend Berücksichtigung
in Prävention, Diagnostik und Therapie von Krankheitsprozessen. Durch den demo-
grafischen Wandel erlangt die Geriatrie innerhalb der Gendermedizin zentrale Bedeutung.
DEMOGRAFIE
Constance Schlegl, MPH
Weiterführende Informationen
Gender Medicine Unit
der Medizinischen Universität Wien
www.meduniwien.ac.at/hp/gender-medicineFrauengesundheitszentrum
Universitätsklinik Innsbruck
fgz.i-med.ac.atInstitut für Frauen und Männergesundheit (Wien)
www.fem.atGender Index auf der Webseite des BMGF
bit.ly/2r91Xjd