Morbus Bechterew –
geschlechterungleiche Behandlung
Geschlechterspezifische Unterschiede des klinischen Phänotyps
im Hinblick auf die Gruppentherapiegestaltung
Menschen mit Rückenschmerzen als PatientInnen sind
aus der heutigen Gesundheitswelt nicht mehr wegzuden-
ken. Dabei sind die Ursachen so vielfältig wie die Men-
schen selbst. Der Gedanke, dass das Immunsystem ein
entscheidender Einflussfaktor bei der Entstehung von
Rückenschmerzen ist, kommt häufig erst im Verlauf der
Diagnosefindung zum Tragen. Morbus Bechterew (AS,
ankylosierende Spondylitis) zählt zu den prädominant
axialen Spondylarthropathien. Im Vordergrund dieser
Erkrankung stehen Schmerzen und Einschränkungen des
Bewegungsapparates, vor allem der Wirbelsäule und des
Beckens.
Hauptsächlich charakterisiert sich die AS jedoch durch
den entzündlichen Rückenschmerz. Dieser entspricht
laut den neuen ASAS-Klassifikationen (Assessment of
Spondylo Arthritis international Society) vier von fünf
Kriterien:
°
Alter bei erstmaligem Auftreten von Symptomen:
< 40 Jahre
°
langsamer Beginn
°
Verbesserung der Schmerzen bei Bewegung
°
keine Verbesserung der Schmerzen in Ruhe
°
Schmerzen in der Nacht, die sich nach
dem Aufstehen verbessern
Neben diversen Behandlungen stellt die Physiotherapie
eine wesentliche Therapiesäule dar, welche vergleichs-
weise äußerst kosteneffektiv ist. In unterschiedlichen
Arbeiten von Dagfinrud et al. (2004, 2008) wurde ge-
zeigt, dass die Kombination aus stationärer Kur und
Bewegungstherapien mit anschließenden ambulanten,
wöchentlichen Gruppenphysiotherapiestunden die effek-
tivste Form der Begleitung für die PatientInnen darstellt.
Die Möglichkeit einer spezifizierten Behandlung wird so
zwar verringert, jedoch spielt die Wahl der Gruppenmit-
glieder dabei eine entscheidende Rolle. Ziel der von mir
verfassten Bachelorarbeit war es, geschlechterspezifi-
sche Unterschiede aufzuzeigen und so eine Indikation
für eine geschlechtergetrennte Gruppentherapie fest-
zustellen.
Geschlechterspezifische Unterschiede
Es konnte festgestellt werden, dass mehr Frauen als
Männer angaben, Rückenschmerzen als Hauptproblem
zu erleben. Außerdem lässt sich klar erkennen, dass
Nackenschmerzen, obere Rückenschmerzen, periphere
Arthritis und Enthesitis vor allem bei Frauen vorkommen.
Männer weisen einen schwereren radiografischen Scha-
den auf, sowohl im frühen als auch im späten Krankheits-
verlauf. Außerdem wird bei Männern ein signifikant
höherer CRP-Wert gemessen.
Es besteht Grund zur Annahme, dass es eine generell
differenzierte Schmerzwahrnehmung gibt sowie bei
Frauen eine größere Bürde durch die Erkrankung. Diese
resultiert daraus, dass sie deutlich mehr Einschränkun-
gen in ihren Aktivitäten und in ihrer Partizipation am
Leben (BASFI, ASQol etc.) wahrnehmen. Der Einfluss
von biologischen, psychologischen und psychosozialen
Faktoren auf die Schmerzwahrnehmung und Schmerz-
verarbeitung spiele dabei eine wesentliche Rolle. Weitere
psychologische Erklärungen inkludieren den Einfluss von
sozialen Geschlechterrollen, den Unterschied im Umgang
mit Schmerz, das erhöhte Auftreten von Komorbiditäten
wie Angststörungen oder Depression bei Frauen sowie
den empirischen Mechanismus der Erfahrung von
Geburten. Dies sollte bei geschlechterspezifischen
Unterschieden bezüglich des Schmerzniveaus beim
Outcome klassifizierender Assessments berücksichtigt
werden, da weniger Frauen bestimmte Kriterien erfüllen
könnten, wenn der Gesamtwert eines solchen Assess-
ments signifikant durch Schmerzlevels beeinflusst wird.
Geschlechterspezifische Unterschiede bei verschiedenen Pathologien rücken besonders
seit dem Aufkommen der Gendermedizin in den vergangenen Jahren vermehrt ins Zentrum
des Interesses. Aufgrund der unterschiedlichen Krankheitsmanifestation der Geschlechter
besteht die Frage, ob und wie man diese Differenzen der klinischen Präsentation optimal
innerhalb eines physiotherapeutischen Gruppentherapiesettings nutzen und behandeln kann.
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Juni 2017
Themenschwerpunkt
Gendermedizin in der Physiotherapie