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Die Vermessung des Gehens

Möglichkeiten und Limitationen in der Beurteilung

menschlicher Fortbewegung

Gehen und Laufen sind elementare Bestandteile

der Fortbewegung. Einschränkungen oder Schmer-

zen bei diesen Funktionen können zu deutlichen

Problemen in der Partizipation führen. Egal, ob es

darum geht, dass Strecken im Alltag nicht mehr

bewältigt werden können, dass es nicht mehr

möglich ist, mit ein paar schnellen Schritten die

Straßenbahn zu erreichen oder darum, dass man

nicht mehr in der Lage ist, Laufen als Sport zu be-

treiben: Die Analyse des Bewegungsablaufes stellt

einen zentralen Bestandteil der physiotherapeuti-

schen Befundung dar. Das menschliche Auge ist

neben den Händen das wichtigste Befundungs-

instrument in der Physiotherapie. Der Blick auf

PatientInnen schenkt uns vielfältige Informationen

über deren Befinden und Verhalten oder die Art,

wie Bewegungen durchgeführt werden. Zur Analyse

von Körperstatik und von Bewegungsabläufen ist

das freie Auge meist das Mittel der Wahl.

Das menschliche Auge kann jedoch, vor allem bei

schnellen und komplexen Bewegungsabläufen,

häufig überfordert sein: einerseits, weil zu viele

Bewegungen gleichzeitig passieren, andererseits,

weil unser Gehirn in der Aufnahmefrequenz von

bewegten Bildern stark limitiert ist.

Sehen wir ein Video, nehmen wir es dann als flie-

ßend wahr, wenn zirka 16 Bilder pro Sekunde ge-

zeigt werden. Das liegt daran, dass unser Gehirn

die fehlenden Informationen interpretiert – ein

Daumenkino funktioniert aus demselben Grund.

Genauso ergänzt unser Gehirn bei der Beobach-

tung mit freiem Auge die Parameter, die für uns

nicht sichtbar sind. Das bedeutet, dass viele De-

tails von komplexen Bewegungsabläufen, die wir

als relevant erachten, für uns in Wirklichkeit gar

nicht erkennbar sind.

Moderne Möglichkeiten

Häufig sind genau die kleinen, kaum zu erkennen-

den Abweichungen im Bewegungsverhalten für

große Veränderungen der wirkenden Kräfte ver-

antwortlich. Eine leichte Verlagerung des Körper-

schwerpunktes, eine geringe Veränderung eines

Gelenkwinkels, aber auch ein leicht verfrühtes oder

verspätetes Einleiten einer Gangphase können die

entstehende Belastung für den Bewegungsapparat

fundamental verändern.

Um diese relevanten Abweichungen zu erkennen

und objektiv darzustellen, ist es in vielen Fällen

notwendig, computerunterstützte Bewegungs-

analysen durchzuführen. Die Möglichkeiten sind

vielfältig und reichen – abhängig von der Anfor-

derung und Möglichkeiten – von Videoanalysen in

der eigenen Praxis bis zu komplexen dreidimen-

sionalen Bewegungsanalysen mit synchronen

Messungen der Kraft und der Muskelaktivität in

Bewegungsanalyselaboren. Im Folgenden werden

die drei Teilbereiche der Bewegungsanalyse

(Kinematik, Kinetik und Muskelaktivität) und

verschiedene Einsatzmöglichkeiten erläutert.

Kinematik

Kinematik ist die Lehre von Bewegung im Raum.

Beurteilt werden räumlich-zeitliche Parameter wie

Gehgeschwindigkeit, Schrittlänge, Standphasen-

dauer sowie Positions- und Winkelveränderungen

von Segmenten und Gelenken. Genau das versu-

chen wir mit freiem Auge zu beurteilen. Und das

gelingt uns bei vielen Dingen sehr gut. Ein posi-

tives Duchenne-Zeichen oder eine mangelnde

Knieflexion in der Schwungphase lassen sich rela-

tiv leicht erkennen. Bei Bewegungskomponenten,

wo schon kleine Veränderungen relevant sind –

wie bei der Beckenposition in der Standphase

oder dem Zeitpunkt der Fersenabhebung – ist die

Befundung schon schwieriger. Bei schnellen Be-

wegungen, wie sie beim Laufen auftreten, ist eine

seriöse Beurteilung von vielen wichtigen Aspekten

gar nicht mehr möglich.

Gerade die Erfassung von kinematischen Daten

ist in der eigenen Praxis auch mit geringem techni-

schen Aufwand gut durchführbar. Für gute Bewe-

gungsanalysen sind neben Know-how nur eine

Digitalkamera und ein Laptop vonnöten. Die

Kameras von Smartphones und Tablets mancher

Hersteller erzielen Bildaufnahmefrequenzen, mit

welchen selbst eine Laborausstattung nicht mit-

halten kann. Mit korrektem Umgang ist eine

deutlich genauere Befundung, die auch konkrete

Zahlen liefert, möglich.

Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass man auch

kleinere Veränderungen im Bewegungsverhalten –

sowohl für die Dokumentation als auch Feedback

für PatientInnen – sichtbar machen kann.

Im Praxisalltag begegnen uns in den verschiedenen Bereichen

der Physiotherapie PatientInnen mit Problemen beim Gehen.

Ob in der Orthopädie, der Neurologie, der Inneren Medizin, der

Pädiatrie oder der Geriatrie – die Erlangung oder Wiedererlan-

gung einer funktionellen Gehfähigkeit steht oftmals im Zen-

trum der Therapie.

COMPUTERGESTÜTZTE BEWEGUNGSANALYSE

Andreas Jocham, MSc

© pathdoc – Fotolia.com

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Dezember 2016

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