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Dezember 2016
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Assessments sind standardisierte Testverfahren. Zu den
bekanntesten Assessments in der Geriatrie und Neurolo-
gie gehören der Timed-Get-Up-Go-Test (TUG), der Tinetti-
Test und die Berg Balance Scale (BBS). Sie wurden vor
zirka 30 Jahren in den USA und Kanada entwickelt und
beinhalten Aufgaben wie das Aufstehen, den Einbein-
stand oder das Gehen, also Aktivitäten, die in einer nicht
standardisierten physiotherapeutischen Untersuchung
ohnedies eingesetzt werden.
Seit den ersten Entwicklungen in den 80er-Jahren gab
es einen enormen Anstieg an Assessments. Heute findet
man z. B. auf Rehab Measures über 40 Assessments zum
Thema Balance. Dieses Übermaß erschwert die Auswahl
und Implementierung von Assessments in der Praxis.
Eine 2015 publizierte Studie zeigt, dass die Assessment-
Anwendung in der Praxis in Österreich noch wenig
etabliert ist. Nur 10 Prozent der StudienteilnehmerInnen
gaben an, regelmäßig Assessments einzusetzen. Das
Interesse an Assessments ist jedoch vorhanden, zumal
sich fast die Hälfte der TeilnehmerInnen ein Fortbildungs-
angebot in diesem Bereich wünscht.
Im Folgenden wird ein Modell zur Entscheidungsfindung
vorgestellt, das die amerikanische Physiotherapeutin
Kirsten Potter im Jahr 2011 veröffentlicht hat. Sie
beschreibt sechs Faktoren, die bei der Assessment-
Auswahl bedacht werden sollten.
1. Was soll gemessen werden?
Die International Classification of Functioning, Disability
and Health (ICF) dient als Grundlage für die Beant-
wortung dieser Frage. Eine physiotherapeutische Unter-
suchung auf allen Ebenen der ICF stellt sicher, dass
PatientInnen ganzheitlich in ihrer Beeinträchtigung und
Lebenssituation gesehen werden. Die Ergebnisse einer
Umfrage unter österreichischen PhysiotherapeutInnen in
der Neurorehabilitation zeigen, dass primär Assessments
auf der Ebene Körperfunktion, -struktur und Aktivität an-
gewendet werden, nicht jedoch solche zur Beurteilung
von Partizipation bzw. Lebensqualität. Für viele Krank-
heitsbilder stehen jedoch Assessments über das ge-
samte ICF-Spektrum zur Verfügung. So hat z. B. eine
Arbeitsgruppe des amerikanischen Physiotherapie-Ver-
bands im Jahr 2014 Assessments zur Untersuchung bei
Multipler Sklerose im Rahmen der ICF zusammengestellt.
2. Ziel der Messung
Die meisten Assessments verfolgen drei unterschiedliche
Ziele: Diskrimination (z. B. Sturzgefährdung ja/nein),
Vorhersagen (z. B. Abklärung von zukünftigen Sturz-
risiken oder Prognosen zur späteren Gehfähigkeit nach
einem Schlaganfall) und Evaluation (z. B. Quantifizierung
des Behandlungseffekts). Assessments zur Diskrimina-
tion haben meist wenige Antwortmöglichkeiten und sind
daher in den wenigsten Fällen tauglich für die Evaluation.
Aktuelle klinische Leitlinien empfehlen die umfassende Verwendung von
Assessments in der Physiotherapie, zum Beispiel, um Sturzgefährdung aus-
zumachen oder Therapieerfolge zu quantifizieren. Der sinnvolle und praktikable
Gebrauch solcher Assessments ist jedoch mit Herausforderungen verbunden.
Wie Sie Assessments im Praxisalltag auswählen können, lesen Sie hier.
PRAXIS
Gudrun Diermayr, MA PhD, Andrea Greisberger, MSc