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Die schwere Last

der Schultasche

Wie stellen wir uns dieser Problematik?

Die Schultasche ist ein Arbeitsmittel der Kinder. Die

Verhältnisprävention verlangt es, auf ergonomische

Must-haves bei Schultaschen zu achten. In Verwendung

sind herkömmliche formstabile Schultaschen, Schul-

rucksäcke und Trolleys. Mit 95 Prozent macht der Typus

»Backpack« bei Volksschulkindern den häufigsten aus.

Essenzielle Details dabei sind der gepolsterte Rückenteil,

vier Zentimeter breite, weiche sowie verstellbare,

s-förmige Gurte und eine Unterteilung des Innenraums

zur körpernahen Lastplatzierung. Für das Leergewicht

der Schultasche werden 1.200 Gramm als Richtwert

angegeben. Beladen sollte sie 10 bis 12,5 Prozent

(ÖNORM) des kindlichen Körpergewichts nicht über-

schreiten. Dieses relative Gewicht fällt jedoch oft höher

aus. Gemäß einer deutschen Untersuchung aus 2007

betrug es im Mittel 13,32 Prozent. Eine Bachelorarbeit,

die 2015 im Rahmen eines Kids-Prevention-Projekts an

einer Wiener Volksschule das Schultaschengewicht er-

mittelte, stellte sogar punktuell noch höhere Werte fest.

Ist der Grenzbereich haltbar und wie sieht es mit der

Evidenz hinsichtlich Überlastung aus? Tatsache ist, dass

der Richtwert aus dem ersten Weltkrieg stammt und hier

die Last von Rekruten bei langen Märschen regelte.

Die VerfasserInnen der deutschen Studie stufen diese

Richtlinie als fragwürdig ein und gehen sogar davon aus,

dass es erst bei Lasten ab einer Höhe von 30 Prozent

des Körpergewichts zu Überlastungen kommt.

Folgen dorsaler Lasten

Dorsale Lasten von 20 Prozent des Körpergewichts

bewirken einen Trunc Forward Lean. Je nachdem, ob der

nach dorsal verschobene Rumpfschwerpunkt anterior

oder posterior des Hüftgelenkzentrums zu liegen kommt,

wird die vordere muskuläre Schlinge (M. iliopsoas,

M. recus femoris, M. rectus abdominis) oder die hintere

(M. biceps femoris, M. glutaeus maximus, M. errector

spinae), gemessen mittels Oberflächen-EMG, aktiviert.

Eine Zunahme der muskulären Aktivität in unterschiedli-

chen Regionen ist eine logische Folge von Drehmomen-

ten und nicht zwangsläufig mit einer Überlastung

gleichzusetzen.

Auf das Verhalten kommt es an

Die Reaktionen des Bewegungssystems auf dorsale

Lasten hängen von der kindlichen Konstitution und von

entwickelten Haltungsmustern ab. Die Beanspruchung

des Kindes ist eng mit seinem konditionellen Zustand

verknüpft. Demnach sind individuelle Inspektion sowie

Haltungs- und Bewegungsanalysen mit angelegter Schul-

tasche erforderlich, um Abweichungen und muskuläre

Ausgleichsstrategien zu erkennen. Darin besteht eine

Schlüsselkompetenz von PhysiotherapeutInnen! Darüber

hinaus können wir in einem verhaltenspräventiven Ansatz

durch Schulung der korrekten Anlage am Rücken, der

ergonomischen Packweise sowie des ökonomischen

Aufhebens/Abstellens potenziell schädigenden Ein-

flüssen vorbeugen.

Ein Plädoyer für das Tragen der Schultasche

als Training

Die Universität Saarland kam zu dem Ergebnis, dass

oft nicht die Tragelast zu hoch, sondern die Muskulatur

des Kindes insuffizient ist. Auch hier sind wir Physiothe-

rapeutInnen auf den Plan gerufen: einerseits in beraten-

der Form, um die elterliche Angst der Überlastung

einzudämmen und Eltern darin zu bestärken, dass die

getragene Schultasche, auch wenn ihr relatives Gewicht

über der 10-Prozent-Marke liegt, eine Trainingsform am

täglichen Schulweg darstellt; andererseits im Anbieten

zielgerichteter Trainings- und Ausgleichsprogramme,

da ein hohes Aktivitätslevel die beste Prävention vor

Überlastung darstellt.

Es gibt Normen und Gütesiegel für die Beschaffenheit von Schultaschen – und dennoch

bleibt das Thema ein Dauerbrenner. Eltern beklagen das hohe Gewicht, das den Rücken

ihres Kindes belastet, und suchen Rat beim Konsumentenschutz sowie in Produktinfor-

mationen. Auch wir PhysiotherapeutInnen werden dann und wann (glücklicherweise)

von Firmen, Schulen und Eltern kontaktiert, um eine Expertensicht einzubringen.

Aber wie positionieren wir uns, um Eltern aufzuklären und der Evidenz gerecht zu werden?

Was spricht für und gegen den Trolley?

PRO

Last wird gerollt und nicht getragen

Umrüstbar zum Tragen am Rücken

CONTRA

Last muss beim Einsteigen

in Verkehrsmittel gehoben werden

Last wird beim Stiegensteigen meist

am Tragegriff (einseitig) getragen

Zumeist höheres Leergewicht

als Schultaschen

Asymmetrische, rotatorische Haltung

der Wirbelsäule beim Ziehen

Eingeschränktes kindliches Bewegungs-

verhalten, z. B. Laufen nicht möglich

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physio

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April 2017

Fokus

Gesundheit im Alltag