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Fremdkulturell

geprägte PatientInnen

Eine Herausforderung für PhysiotherapeutInnen

PRISTOJKOVIC

Hat ihre Verhaltensweise einen kulturellen

Hintergrund?

CSELLICH-RUSO

Ihr Verhalten spiegelt die Vorstellungen

für angemessenes Verhalten in einer Kollektivgesell-

schaft wider. Diese PatientInnen wollen von gleichge-

schlechtlichen TherapeutInnen behandelt werden.

Das wird nicht immer möglich sein. In einem ersten

hausinternen Schritt wäre es hilfreich, zu klären, wie

mit derartigen Vorstellungen umzugehen ist. Es gilt,

den PatientInnen die Vorgehensweise zu erklären und

gemeinsam Wege zu finden, um mit dieser Situation

bestmöglich umzugehen. Außerdem geht es um im ge-

samten Nahen und Mittleren Osten allgemein bekannte

Ehrvorstellungen. Würde unvorhergesehen ein Mann den

Raum betreten, würde dies eine Ehrverletzung darstellen.

Zusätzlich ist das Freimachen der Lendenwirbelsäule und

auch das Berührtwerden ein Eingriff in den Intimbereich

und daher mit Scham verbunden.

PRISTOJKOVIC

Warum hatte sie geringe Deutsch-

kenntnisse?

CSELLICH-RUSO

Frauen dürfen oft nur in männlicher

Begleitung außer Haus. Da diese Frauen vorwiegend

nur mit Frauen des großfamiliären Netzwerks oder

Frauen aus der eigenen Volksgruppe Kontakt haben,

können sie kaum Deutsch. Zugleich ist das auch eine

Frage der Macht des Mannes über die Frau.

PRISTOJKOVIC

Aus welchem Grund hat sie nur

gemurmelt?

CSELLICH-RUSO

Sie meinten, die Patientin hätte gebetet,

also möglicherweise aus religiösen Gründen gemurmelt.

Ihre Annahme ist vermutlich richtig.

PRISTOJKOVIC

Während meiner Bemühungen, ihr die

wichtigsten Übungen zu erklären, welche ich mit Bildern

dargestellt und vorgemacht habe, hatte ich den Eindruck,

dass sie nicht aktiv mitmachen möchte.

PRISTOJKOVIC

Zu meiner Behandlung kam eine Kopftuch

tragende muslimische Patientin mit sehr geringen

Deutschkenntnissen. Sie klagte über Probleme mit der

Hals- und Lendenwirbelsäule. Trotz meiner mehrfachen

Bitte, den Oberkörper freizumachen, kam sie dieser nicht

nach. Sie erweckte den Eindruck, dass sie den Inhalt

meiner Erklärungen nicht verstand. Die Patientin ver-

stand nur, dass sie ihr Kopftuch ablegen sollte. Daher

habe ich mich entschlossen, die Halswirbelsäule passiv

zu behandeln. Sobald ich einen Schmerzpunkt berührte,

begann sie leise vor sich hinzusprechen. Meiner Meinung

nach hat sie gebetet. Obwohl ich versuchte nachzu-

fragen, ob der Schmerzpunkt zu unangenehm ist,

kam keine Antwort von ihr.

CSELLICH-RUSO

Da kommen viele Aspekte zusammen.

Diese Frau dürfte aus einer sehr traditionellen, autoritä-

ren und patriarchalisch geprägten Familie stammen.

Sie hat bestimmte Erwartungen. Dazu zählen auch das

Einhalten religiöser Regeln und das Tragen des Kopftu-

ches. Es hilft, wenn Sie sicherstellen und der Patientin

glaubhaft vermitteln können, dass kein Mann den Be-

handlungsraum betreten kann. Üblicherweise macht sie

sich erst dann frei oder legt das Kopftuch erst dann ab,

wenn sie sich dessen absolut sicher sein kann. Zugleich

gibt es die Vorstellung unter zahlreichen muslimischen

Männern, dass Frauen des Geschlechts wegen nicht

kompetent sein können. Für sie ist es schwierig, von

einer Therapeutin behandelt zu werden. Da bedarf es

klarer Regeln.

Probleme bei Behandlungen von PatientInnen aus anderen Kulturen

treten dann auf, wenn interkulturelles Wissen fehlt. Die Globalisierung

hat in den letzten Jahren das Gesicht der Physiotherapie geprägt

und verändert. Dadurch können potenzielle Schwierigkeiten in der

Kommunikation entstehen. In folgendem Interview wird eine Situation

aus der Praxis dargestellt.

Themenschwerpunkt

Multikulturalität in der Physiotherapie

LITERATUR

Csellich-Ruso, R. (2015)

Transkulturell Kompetent.

Erwachsenenbildung;

Wien: E. Dorner.

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physio

austria

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April 2017