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physio

austria

inform

Februar 2017

Themenschwerpunkt

Physiotherapie und Menschen mit Behinderung

Motorisches Lernen

bei psychomotorischer

Behinderung

Physiotherapie in untrennbarem Kontext

von Kognition, Emotion und sozialer Interaktion

Psyche und Körper sind untrennbar, daher beschäftigt

sich die Psychomotorik mit Bewegung als Grundlage für

unsere Persönlichkeit, basierend auf der Funktionseinheit

aus Wahrnehmen, Erleben und Handeln. Somit stehen

sensible, kognitive und motorische Funktionen in engem

Bezug zu personenbezogenen Faktoren wie zum Beispiel

Selbstwert, Selbstwirksamkeitserwartung und Kontroll-

überzeugung als Grundlage für Motivation und Adhärenz

in der Physiotherapie. Personen mit beeinträchtigter

Intelligenz oder Motorik zeigen daher in ihrem gesundheit-

lichen Lernverhalten andere Bewältigungsstrategien als

gesunde Personen. Um ein unabhängiges Leben führen

zu können, sind sie zudem abhängig von den vorhandenen

Rahmenbedingungen bzw. Umweltfaktoren.

Bereits in der Informationsaufnahme stehen 200.000

ÖsterreicherInnen (80 Prozent davon sprechen Deutsch

als Muttersprache) einer großen Barriere gegenüber:

Aufgrund einer Leseschwäche können sie ausschließlich

einfache, kurze Sätze und vertraute Wörter bzw. Themen

verstehen und sind auf langsame und deutliche Sprache

angewiesen. Barrierefreies Verständnis wichtiger Informa-

tionen ist daher das Ziel von

Capito.eu,

einem Social

Franchise-Netzwerk. In der Physiotherapie bedarf es

adäquater Texte, Worte, Sinnesreize und Medien sowie

einer kontinuierlichen Prüfung des Verständnisses.

Merksätze und Bilder in Anamnese/Wiederbefund

(z. B. Physiologik-Barometer, Smileys anstelle der

NRS-Skala) sowie als Teil der Übungsanleitung und

-vorstellung nutzen dabei.

Für Personen, die sich nicht verbal ausdrücken können,

bietet LifeTool

(www.lifetool.at

) verschiedene Lösungen

an, wie z. B. augengesteuerte Computer und Wortregister.

In der Physiotherapie lassen sich dadurch die körperliche

Anstrengung und das subjektive Stresslevel mindern

sowie Ziele und Bedürfnisse der PatientInnen kommunizie-

ren. Auch Missverständnissen kann auf diesem Weg vor-

gebeugt werden. Verständnis und Ausdruck sind Basis

der sozialen Kompetenz und der Anpassung einer Person

an ihre Umwelt. Kenntnisse von Lerntheorien und fördern-

den bzw. hemmenden Faktoren sind die Basis aller Maß-

nahmen zur Förderung des motorischen Lernens. Bei

beeinträchtigten kognitiven Funktionen geben darüber

hinaus die beeinträchtigten Gehirnstrukturen wichtige

Auskunft darüber, welche Maßnahmen für welche

Personen zu welchem Zeitpunkt geeignet sind:

Drei Lernphasen

1

In der ersten, kognitiven Lernphase muss der präfrontale

Kortex zuverlässig Aufmerksamkeit bereitstellen, um den

Bewegungsplan entwerfen zu können. Das Beobachten

(auch anderer Lernender einer Gruppe), Vorsagen und

schrittweise Ausführen hilft – zum Beispiel Menschen

mit Lernschwäche und gestörten Exekutivfunktionen –

bei neuen Aufgaben.

2

In der zweiten, assoziativen Lernphase entscheiden

Kleinhirn und Basalganglien über Kontrolle und Timing von

Bewegung und Muskelspannung. Fehler sollen gemacht,

erkannt und korrigiert werden. Sobald Personen zu Beginn

des Übens spontan korrekte Ausführung zeigen (Retenti-

onstest), sind externer Fokus und Ausführung der Gesamt-

bewegung – im geforderten Kontext – zu bevorzugen.

3

Für eine Automatisierung, einen Transfer in neue Situatio-

nen und die Fähigkeit, Dual-Task-Aufgaben zu bewältigen,

bedarf es vieler Wiederholungen. Personen mit Lern-

schwäche, Bewegungsstörungen oder Demenz sollten

dieses Ziel primär für jene Bewegungen anstreben, die

sie häufig in ihrem Alltag benötigen. Die Lernphasen sind

bei ihnen verlängert (20 bis 30 Übungseinheiten) und

Lernerfolge sind nur begrenzt erreichbar bzw. haltbar.

Wenn Personen mit Lernschwäche oder beeinträchtigter Kommunikation

neue Bewegungen erlernen, sind spezielle Herangehensweisen in

Kommunikation und Übungsgestaltung gefragt.

»VERSTÄNDNIS UND AUSDRUCK SIND

BASIS DER SOZIALEN KOMPETENZ

UND DER ANPASSUNG EINER

PERSON AN IHRE UMWELT.«

© Jaren Wicklund – Fotolia.com