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physio
austria
inform
Februar 2015
Themenschwerpunkt
Physiotherapie und Interdisziplinarität
Physiologisch, biomechanisch, ganzheitlich und
interdisziplinär zu arbeiten: Was bedeutet das?
Wie ist es möglich zu lernen, zu verstehen und
das Gelernte in die Tat umzusetzen? Dieser
Kommentar versucht, im Rahmen der Inter-
nationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit
(ICF) das neue Denkmodel der Physiotherapie
(Hüter-Becker et al. 2005) und meine interdiszipli-
nären Arbeitserfahrungen aus 36 Jahren physio-
therapeutischer Arbeit in den unterschiedlichen
Bereichen und Teams zu erläutern.
Als PhysiotherapeutIn durchlebt man eine Vielzahl
an Lernprozessen. Bereits in der Ausbildung mit
Anatomie, Physiologie, Krankheitslehre und Be-
funderhebung. Auch im Rahmen der Praktika in
den verschiedenen Bereichen wie Geriatrie, Pädia-
trie, Orthopädie und Psychiatrie werden (wie auch
in spezialisierenden Fortbildungen) Erfahrungen
gesammelt.
Den Körper kann man als ein klingendes Instru-
ment mit einem Klangkörper sehen – jede Person
schwingt energetisch in individuellen polyphoni-
schen Rhythmen mit einer Herzfrequenz zwischen
60 und 200 Hertz sowie unterschiedlichen Bewe-
gungsfrequenzen des Atems, Gehens, Redens,
Singens und Schwingens. PhysiotherapeutInnen
können sich vielleicht als Instrumenten-Restaura-
torIn sehen, aber nicht als Instrumenten-BauerIn.
Die Person/das Instrument ist bereits vorhanden.
PhysiotherapeutInnen müssen die Freiheit haben,
das volle Spektrum der Grundausbildung, die fach-
spezifische Fortbildungen und die eigenen persön-
lichen Erfahrungen in einer physiotherapeutischen
Symphonie mit konzeptübergreifender Physio-
therapie einzusetzen
Interdisziplinäre Zusammenarbeit und
Therapeutisches Zusammenspiel
Eine Zuweisung wäre vielleicht: ICD F33.1, d.h.
rezidivierende depressive Störung/gegenwärtig
mittelgradige Episode (WHO, ICD10) und »Körper-
therapie wie vereinbart«. Das fordert eine enge
Zusammenarbeit mit MedizinerInnen und dem
therapeutischen Team. Der Zustand dieser Person
ist komplex und sowohl die ICF als auch das
neue Denkmodell der Physiotherapie sollten
einbezogen werden.
Die Zuweisung erfolgte durch Allgemeinmedizi-
nerInnen, nachdem die körperlichen und seeli-
schen Belastungen der Person auch bei einer
Gruppenphysiotherapie klar zum Ausdruck
kamen und sich das Team bestehend aus
PsychiaterIn, praktische/r Ärztin/Arzt, Psycho-
therapeutIn, PsychologIn, ErgotherapeutIn,
SozialarbeiterIn, ErnährungsberaterIn, MasseurIn
und PhysiotherapeutIn besprochen hatten.
Man kann das Therapiekonzept vielleicht mit
einer Partitur eines Musikstückes vergleichen,
und die Therapie wie eine Symphonie mit mehre-
ren fachspezifischen Instrumenten, die alle ihren
eigenen Klangkörper und Klänge haben. Jedes
Instrument/jede Berufsgruppe hat seine/ihre
eigene Schwingung und seinen/ihre eigenen
Klangkörper. Im Orchester muss jedes Instru-
ment mitspielen in einer Präsenz und Dasein und
mit Respekt den anderen Instrumenten gegen-
über. Jedes Instrument ist wichtig und es ist für
jedeN MitspielerIn wichtig auch hinzuhören. Vor
allem muss gewährleistet sein, dass das gleiche
Musikstück gespielt wird, damit der Einsatz, der
Anfang und das Ende abgesprochen sind.
In der interdiziplinären Zusammenarbeit ist es
wichtig, gemeinsame ausgesprochene Ziele zu
haben, und dass man dem Weg, um diese Ziele
zu erreichen, folgt. Mit diversen Fortbildungen in
den unterschiedlichen Bereichen ist es möglich,
Behandlungskonzepte zu erlernen, aber das Um-
setzen in der Realität kommt durch Üben, Eigen-
erfahrung und Ausübung der Physiotherapie in
der Praxis mit den PatientInnen/KlientInnen,
anderen Berufsgruppen und dem Umfeld der
PatientInnen/KlientInnen.
Die Arbeit der PhysiotherapeutInnen auf allen
Ebenen ist eine interdisziplinäre Arbeit: von der
praktischen Arbeit an den PatientInnen/KlientIn-
nen über die Vermittlung physiotherapeutischer
Inhalte bis hin zum »politisch aktiv Sein« im
Berufsverband. So kann dem Berufsbild mit den
vielfältigen physiotherapeutischen Aufgaben, die
für einzelne Personen aber auch die Gesellschaft
relevant sind, gerecht geworden werden.
Der Körper
als klingendes Instrument
Wo ist die Physiotherapie, wenn es sich um ganzheitliche
und interdisziplinäre Arbeit handelt? Ein persönlicher Kommentar aus der Praxis.
Mag. Agnes
Hove-Christtensen
ist Physiotherapeutin
und Anwenderin der
Basic Body Awareness
Therapie BBAT. Sie
studierte Kunsttherapie
»Expressive Arts
Therapy« und Psycho-
logie. Ihre Arbeitserfah-
rungen und Fortbildun-
gen liegen in den
Bereichen Psychiatrie,
Psychosomatische
Erkrankungen, Ess-
störungen, Neurologie,
Rehabilitation, Geriatrie,
Arbeitsmedizin und
Ergonomie.
LITERATUR
Hüter-Becker A.
et al. (2005) Das Neue
Denkmodell in der
Physiotherapie, Band
2: Bewegungsent-
wicklung Bewegungs-
kontrolle, C.H.Beck.
WHO ICD International
Classification of
Diseases
/
whosis/icd10/
WHO ICF International
Classification of
Functioning, Disability
and Health
/
classification/ICF
1...,26,27,28,29,30,31,32,33,34,35 37,38,39,40