

Erfahrungswerte
Gut zu wissen
Anonym
Ich bin 32 Jahre alt, Physiotherapeutin
und war bislang zweimal von schweren
Depressionen betroffen – inklusive Selbst-
mordgedanken, mehrwöchigen Aufenthalten
in Abteilungen für Akutpsychiatrie und sechs-
wöchiger Reha. Aktuell bin ich vollständig
rehabilitiert. Als Betroffene möchte ich
KollegInnen Folgendes mitgeben: Depres-
siven PatientInnen hilft es, entsprechend
ihrer Ressourcen gefordert, nicht jedoch,
mit Samthandschuhen angefasst zu werden.
Mitgefühl ist erwünscht, Mitleid und Schon-
waschprogramm helfen jedoch keinem. Eine
fordernde physiotherapeutische Einheit, die
PatientInnen an ihre Grenzen bringt, kann auf
andere Gedanken bringen und die Negativ-
gedanken oder Angstspirale zumindest eine
Weile unterbrechen. PatientInnen kann so
gezeigt werden, dass sie auch in fordernden
Zeiten Erfolge und Glücksmomente erleben
können. Nicht zuletzt fördert körperlich
anspruchsvolles (nicht überforderndes!)
Training die Serotonin-Ausschüttung.
Dieser Gehirnbotenstoff ist bei Depressiven
erwiesenermaßen in zu geringem Ausmaß
vorhanden.
Betroffene möchte ich dazu ermuntern,
nahestehende Personen um Unterstützung
zu bitten, sodass professionelle und auch
medikamentöse Hilfe in Anspruch genommen
werden kann. Ein Netzwerk aus FachärztIn,
PsychotherapeutIn und wahlweise Physio-,
Ergo-, MusiktherapeutIn und SozialarbeiterIn
ist eine von Erfolg gekrönte Kombination.
Medikamente sind keine Feinde, sondern
kleine Helfer, die uns wieder auf die Beine
bringen. Sobald sie nicht mehr nötig sind,
werden sie reduziert und dann abgesetzt.
Antidepressiva (nicht Benzodiazepine/
Schlafmittel) machen nicht süchtig.
Die vielleicht wichtigste Nachricht aber:
Die Depression geht vorbei und es
kommen wieder gute Zeiten, die absolut
lebenswert sind!
Birgit-Patrizia Gabriel
Die Ganzheitlichkeit in der physiotherapeutischen
Behandlung besitzt einen immer höher werdenden
Stellenwert. Aufmerksamkeit, Gedanken und Ge-
fühle können das Krankheits- oder Schmerzerleben
verstärken oder abschwächen. Seit meinen Weiter-
bildungen in Mentaltraining, Sportmentaltraining
und Achtsamkeitstraining hat sich mein Wirkungs-
feld als Physiotherapeutin erweitert. PatientInnen
können im Problemdenken gefangen oder auf den
Schmerz fokussiert sein. Mit gezielten Übungen
zur Körperwahrnehmung lernen PatientInnen ihre
Aufmerksamkeit auch auf Körperregionen zu
lenken, die heil und schmerzfrei sind.
Mentales Training fördert eine lösungsorientierte
Denkrichtung und kann so im therapeutischen
Setting einen Perspektivenwechsel einleiten.
Durch die gezielte Formulierung von Fragen
(»Was ist gut bzw. was funktioniert alles?« »Welche
Stärken und Ressourcen haben Sie in der Ver-
gangenheit gehabt bzw. welche habe Sie im
Moment?«) lässt sich entscheidend beeinflussen,
in welche Richtung die Aufmerksamkeit von
PatientInnen gelenkt wird.
Eine ideale Ergänzung, um physiologische Be-
wegungsabläufe effektiver zu erlernen oder zu
reproduzieren, ist das ideomotorische Training.
Darunter versteht man die mentale Vorstellung
von Bewegungen – auch Visualisierung genannt –
ohne reale Ausführung. Mentale Interventionen
haben das Ziel, das Selbstbewusstsein und die
Selbstwirksamkeit im Gegenüber zu fördern.
Ratschläge werden reduziert und die Individualität
an Lösungsmöglichkeiten (z. B. bei aktiven Bewe-
gungsübergängen) wird zugelassen. Mit der Frage
»Wie würden Sie das lösen?« werden PatientInnen
in einen kreativen Prozess gelenkt, der anschlie-
ßend – wenn nötig – therapeutisch adaptiert wer-
den kann. Motivation und Antriebskraft verstärken
sich, wenn PatientInnen mit ihren eigenen Ideen
und Ressourcen in Berührung kommen. Darüber
hinaus erzeugt eine aktive Haltung meist das
Gefühl, selbst etwas zum eigenen Befinden
beizutragen und nicht völlig der Krankheit aus-
geliefert zu sein.
Drei PhysiotherapeutInnen geben Tipps für die
physiotherapeutische Behandlung von PatientInnen
im Bereich der Mental Health. Sie schöpfen ihr Wissen
aus eigenen Erfahrungen und gezielten Weiterbildungen.
Themenschwerpunkt
Mental Health und Physiotherapie
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September 2017