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physio

austria

inform

Juni 2017

Hierbei wurden über 1.100 PatientInnen, davon 46

Prozent Frauen, mit akuter kardialer Symptomatik unter-

sucht. Bei den standardisierten »state-of-the-art«-Tropo-

nintests bestätigte sich die geltende Annahme, dass

doppelt so viele Männer wie Frauen einen Herzinfarkt

erleiden. Dies konnte anhand der Troponinwerte im Blut

nachgewiesen werden. Als die ForscherInnen allerdings

eine abweichende und sensiblere Variante des Troponin-

tests einsetzten, blieb die Zahl der Grenzwertüberschrei-

tungen bei Männern nahezu gleich, die Zahl der Frauen

mit Troponinerhöhungen, die typisch für einen Myokard-

infarkt sind, wurde jedoch verdoppelt. Somit wurden

viele Myokardinfarzierungen bei Frauen identifiziert,

die beim herkömmlichen Troponintest unentdeckt

geblieben wären.

Auch am Beispiel der Depression, die wie die meisten

psychiatrischen Erkrankungen multifaktoriell bedingt ist,

lassen sich genderspezifische Unterschiede in diversen

Krankheits- und Behandlungsebenen anschaulich dar-

stellen. Depressionen werden etwa doppelt so häufig

bei Frauen diagnostiziert. Als Ursachen hierfür werden

genetische und/oder organische Faktoren, ein Zusam-

menhang mit dem weiblichen Endokrinum, psychiatri-

sche Komorbiditäten, frühkindliche Entwicklungsstörun-

gen und belastende Lebensereignisse in Zusammenhang

gebracht. All diese Faktoren unterliegen geschlechts-

spezifischen Einflüssen und führen zur erhöhten Lebens-

zeitprävalenz der Depression bei Frauen. Doch nicht nur

in der Entstehung, auch in der Ausprägung der klinischen

Symptome werden geschlechtsspezifische Unterschiede

sichtbar. So findet man bei depressiven Männern neben

den klassischen Symptomen wie Traurigkeit, Abgeschla-

genheit und Müdigkeit häufiger externalisierende

Verhaltensweisen wie Aggression oder verminderte Im-

pulskontrolle, während bei Frauen öfter internalisierende

Verhaltenscharakteristika mit sozialem Rückzug und

Vereinsamung zu beobachten sind. Als therapeutische

Maßnahmen kommen, je nach Schweregrad der depres-

siven Störung, medikamentöse als auch psychotherapeu-

tische Methoden zum Einsatz. Und auch in diesem

Bereich gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede:

So gibt es aktuell Hinweise, dass Frauen prämenopausal

besser auf Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI)

ansprechen als Männer, wohingegen postmenopausal

trizyklische Antidepressiva ähnlich gute Ergebnisse

erzielen. Geschlechtsspezifisch zu berücksichtigen ist

auch das Nebenwirkungsprofil von SSRIs, da männliche

Patienten häufig über Erektions- und Ejakulationsstörun-

gen berichten, die diesbezüglich zu häufigeren Therapie-

abbrüchen innerhalb des männlichen Patientenkollektivs

führen. Auch der Umstand, dass Frauen insgesamt häufi-

ger ÄrztInnen aufsuchen, um über psychischen Probleme

zu sprechen, mag eine Ursache für die erhöhte Inzidenz

der Diagnose »Depression« bei Frauen sein. Männer

suchen PsychotherapeutInnen meistens auf, um sich mit

ihrem aggressivem Verhalten oder Suchterkrankungen

auseinanderzusetzen, währenddessen Frauen oftmals an

Angsterkrankungen und Depressionen leiden. Zusätzlich

müssen auch die interpersonellen Einflüsse des Ge-

schlechts zwischen TherapeutInnen und PatientInnen

in der Behandlung berücksichtig werden.

Physiotherapie und Gender

Die Diagnosen, die Physiotherapie als Behandlung nach

sich ziehen, sind mannigfaltig: Physiotherapie ist bei

diversen Diagnosen immanenter Bestandteil des Thera-

pieregimes. Ungeachtet, ob man physiotherapeutische

Behandlungssequenzen als primäre Behandlungsform

oder in der Rehabilitation einsetzt, ist das Wissen um

genderspezifische Inhalte essenziell. Durch die Physio-

therapie werden Bewegungsabläufe moduliert und

optimiert, zum Beispiel, wenn die zugrunde liegenden

Krankheitsursachen orthopädischer oder skeletto-

muskulärer Genese sind. Dieses Behandlungsziel ist

allerdings nicht allein durch die Arbeit der Physiothera-

peutInnen erreichbar, sondern es bedarf auch einer in-

tensiven und aktiven Mitarbeit der PatientInnen. Waren

bis vor einigen Jahren genderspezifische Aspekte in der

Physiotherapie hauptsächlich aufgrund der Unterschiede

in der Physiognomie und Anatomie der Geschlechter

berücksichtigt worden, so weiß man heute, dass sich

Frauen und Männer auch auf anderer Ebene, bereits zu

und vor Beginn einer Therapie, deutlich unterscheiden:

Schon bei der Planung des Therapieablaufes sowie bei

Betrachtung der Therapie-Retention zeigen sich Unter-

schiede. Frauen zeigen eine höhere Adherenz und halten

Therapieschemata genauer und konsequenter ein.

Männer hingegen suchen insgesamt seltener physiothe-

rapeutische Hilfe und reden nicht so häufig über ihre

Symptome. Dementsprechend zeigen sich auch deutli-

che Unterschiede in den Verordnungszahlen bei den

Geschlechtern. Eine Studie von Kemper et al. (2008)

untersuchte geschlechterbezogene Unterschiede bei der

Heilmittelverschreibung einer deutschen Krankenkasse.

Die Ergebnisse zeigten, dass 16,1 Prozent der versicher-

ten Frauen und 11,7 Prozent der versicherten Männer

eine Zuweisung zur Physiotherapie aufwiesen, allerdings

Frauen häufiger Folgeverordnungen verschrieben beka-

men. Auch die Anzahl der verordneten Behandlungs-

einheiten pro Rezept war höher. Bei Betrachtung der

Physiotherapie in der onkologischen Rehabilitation kann

eine »state-of-the-art«-Behandlung von körperlichen,

seelischen und sozialen Aspekten als Teil eines moder-

nen, ganzheitlichen Therapiekonzeptes nur durch das

Einbringen von genderspezifischen Inhalten gewährleis-

tet werden. Physiologische und somatische Unterschiede

sind ebenfalls wichtig. So haben Frauen im Vergleich zu

Männern ein kleineres Herz, kleinere Lungen und weni-

ger Blut, was dazu führt, dass weibliche Muskeln weniger

Sauerstoff für die Energiegewinnung zur Verfügung haben

und Frauen bei körperlicher Anstrengung eine höhere

Herzfrequenz aufweisen. Auch unterscheiden sich Frauen

und Männer bezüglich ihrer Copingstrategien und der

Trainingsmotivation nach onkologischen Erkrankungen

oder Unfällen. All diese Faktoren müssen in einer gender-

gerechten Therapiegestaltung berücksichtigt werden.

Eine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung

mit geschlechtsspezifischen Themen scheint somit un-

umgänglich, damit eine adäquate physiotherapeutische

Behandlung für beide Geschlechter garantiert werden

kann.

Themenschwerpunkt

Gendermedizin in der Physiotherapie

Dr. Andjela Bäwert

stellvertretende Obfrau der

Österreichischen Gesellschaft

für geschlechtsspezifische

Medizin, Leiterin Assessment

& Skills am Teaching Center

der MedUni Wien

DIFFERENZEN

Dr. Andjela Bäwert