physio
austria
inform
Juni 2017
9
Ein Grund hierfür war, dass der Einschluss von Proban-
dinnen in Phase II- und Phase III-Studien aufgrund von
physiologischen Hormonschwankungen oder der Mög-
lichkeit von eintretenden Schwangerschaften mit Risiken
fetaler Exposition und potenziell teratogenen Effekten
ungleich höhere Kosten versursacht hätte. Es war um
ein Vielfaches günstiger und logistisch einfacher, eine
Studie zur Arzneimittelwirkung mit männlichen Proban-
den durchzuführen, als weibliche Probandinnen dafür
zu verpflichten.
In diesem Zusammenhang muss der Begriff »Gender
Mainstreaming« erläutert werden, der 1985 erstmalig
durch die 3. Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen
auf breiter, internationaler Ebene erwähnt wurde.
»Gender Mainstreaming« beschreibt die Strategie, durch
die das Ziel der politischen, sozialen und medizinischen
Gleichstellung von Männern und Frauen erreicht werden
soll. Bezog sich die Frauen-Gesundheitsberichterstattung
lange Zeit nur auf die Belange der reproduktiven Organe,
kam es ab den 1990er-Jahren zunehmend zur Veröffent-
lichung von ausführlichen frauenspezifischen Gesund-
heitsberichten, auch bedingt durch feministische
Strömungen, die zu einer diesbezüglichen Bewusstwer-
dung beigetragen haben. Diese Berichte zeigten erst-
malig in evidenzbasierter Form Unterschiede in Lebens-
und Arbeitsbedingungen, dem Gesundheitsverhalten
oder auch dem Angebot bzw. der Inanspruchnahme
von medizinischen Leistungen von Frauen innerhalb des
Gesundheitswesens auf.
In den folgenden Jahrzehnten bis heute gelangte man
von einer kompetitiven Konkurrenz zwischen Verfech-
terInnen der Frauenmedizin im Gegensatz zu den Anhän-
gerInnen der Männergesundheit zu einer Gesundheits-
versorgung, von der beide Geschlechter gleichermaßen
profitieren sollen. Die Bereitschaft zu einer gendersensi-
blen Auseinandersetzung in allen Bereichen der Medizin
hat sich weitestgehend durchgesetzt und hält mehr und
mehr Einzug in die »Mainstream-Medizin« – nicht nur in
den Bereichen Forschung, Prävention und Therapie,
sondern bereits in der Ausbildung und Lehre.
Einflüsse von Gender bei verschiedenen
Erkrankungen
In der somatischen Medizin sind gendersensible Aspekte
anhand der Diagnose »Herzinfarkt« gut zu veranschauli-
chen. Bei jüngeren Frauen kommen Myokardinfarkte
seltener vor als bei Männern gleichen Alters, allerdings
steigt die Gefahr, dass Herzanfälle bei Frauen übersehen
werden. Kündigt sich ein Herzinfarkt bei Männern oft
durch Brustschmerzen mit Ausstrahlung in den linken
Arm an, so berichten Frauen häufig über Symptome wie
Rückenschmerzen, Schmerzen im Unterkiefer oder Ober-
bauchbeschwerden. Diese unspezifischen Anzeichen
können zu einer Fehlinterpretation und, in weiterer Folge,
zu einer schlechteren Versorgung von Frauen bei dieser
Diagnose führen. In einer Studie von Shah et al. (2015),
die im British Medical Journal veröffentlicht worden ist,
wurden die Grenzwerte für das Troponin als spezifischen
Eiweiß-Marker für einen Herzinfarkt beleuchtet.
DIFFERENZEN
Dr. Andjela Bäwert
LITERATUR
Shah ASV et al. (2015). High
sensitivity cardiatic troponin
and the under-diagnosis of
myocardial infarction in women:
propective cohort study. BMJ,
350:g7873.
Cavanagh A et al. (2017).
Differences in the Expression
of Symptoms in men Versus
Women with Depression:
A Systematic Review and
Meta-analysis. Harv Rev.
Psychiatry, 25(1):29-38.
Kemper C et al. (2008).
Qualitätssicherung in der physio-
therapeutischen Versorgung:
eine geschlechterbezogene
Analyse von Krankenkassenda-
ten. Das Gesundheitswesen,
70(08/09):552-558.