Themenschwerpunkt
Multikulturalität in der Physiotherapie
18
physio
austria
inform
April 2017
Gender- und Wissensaspekte
Frauen, die aus religiösen Gründen ihren Körper verschlei-
ern, bitten zumeist bereits im Vorhinein um eine weibliche
Therapeutin. Männer, die mit demselben Wertesystem
aufgewachsen sind, werden ebenso von mir behandelt.
Ob ich verheiratet bin, wird häufig in der ersten Einheit
gefragt – manchmal aus Neugier, manchmal zur Absiche-
rung. Sich (vor dem anderen Geschlecht) auszuziehen
oder gar berührt zu werden, setzt in einigen Kulturkreisen
enorme Intimität und Vertrautheit voraus. Es liegt an mir,
persönliche Grenzen frühestmöglich zu erkennen und
Maßnahmen zu wählen, welche mit den Werten meines
Gegenübers zu vereinbaren sind.
In Spanien werden PatientInnen oft mit Küssen auf die
Wange begrüßt, in Teilen Indiens darf die Begrüßung nicht
von der Frau ausgehen und es gilt als unhöflich, einem
muslimischen Mann die Hand zu schütteln. Kleinigkeiten,
die wir nicht in unserer Ausbildung gelernt haben, aber im
Umgang mit einem multikulturellen PatientInnenklientel
von essenzieller Bedeutung sind. Neugier, Akzeptanz und
Respekt für Brauchtümer und Verhaltensmuster uns frem-
der Kulturen sind das Um und Auf, um unseren PatientIn-
nen auf Augenhöhe zu begegnen.
Unsere Aufgabe
Unser Fokus muss stets auf die individuelle psychosoziale
Situation von PatientInnen gelegt werden. Eine Kulturali-
sierung darf nicht stattfinden. Als Kernstandard gilt trotz
der Differenzen immer eine gemeinsame Zielsetzung,
wobei wir wertneutral auf die Erwartungen unserer
PatientInnen eingehen müssen, ohne zu kategorisieren.
Wenn sprachliche Barrieren vorherrschend sind, erlangt
die Kommunikation auf nonverbaler Ebene, das Deuten
und bewusste Einsetzen von Mimik, Gestik, Körperhaltung
und Stimmklang sowie die Inanspruchnahme von visuellen
Hilfsmitteln (Visuelle Analog Skala, Bodycharts) einen
noch größeren Stellenwert. Besonders die Vermittlung
von Fachwissen muss individuell und ebenso unter Ver-
wendung von Anschauungsmaterial gewährleistet werden,
wobei häufiges Rückfragen noch wichtiger ist als bei
deutschsprachigen PatientInnen.
Es gilt einen Weg zwischen professioneller Distanz und
einfühlsamer, verständnisvoller Nähe zu finden, um
Ängste und Barrieren zu überwinden, Missverständnisse
zu vermeiden und gemeinsame Ziele zu erreichen.
◼
»WIR BEHANDELN
IMMER INDIVIDUEN
UND NIEMALS
KULTURKREISE.«
© volodyar – fotolia.com