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April 2017

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EMPATHIE

Julia Haschke, BSc

Eines der grundlegenden Ziele der Charta der Vereinten

Nationen ist, »die Achtung vor den Menschenrechten und

Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des

Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern

und zu festigen.« Nach diesem Grundsatz wollen auch

wir als TherapeutInnen all unsere PatientInnen gleich

behandeln. Doch wenn wir uns ehrlich sind, ist das

wesentlich leichter gesagt als getan.

Ich habe mich immer schon für unterschiedliche Kulturen

interessiert, reise gerne durch ferne Länder und versuche

so auch meinen beruflichen Weg möglichst vielfältig zu

gestalten. Bei Praktika in unterschiedlichen Bundeslän-

dern und auch in Spanien ist mir schnell klar geworden,

dass man nicht besonders weit reisen muss, um kulturelle

Unterschiede im zwischenmenschlichen Umgang –

wie auch im Therapiesetting – zu entdecken.

Über 38 Prozent der Wiener Bevölkerung stammen aus

einer Familie mit Migrationshintergrund. So bringt auch

mein momentaner Arbeitsalltag in einem Wiener Rehazen-

trum jede Menge Herausforderungen mit sich. Im Folgen-

den möchte ich einen ganz persönlichen Einblick bieten,

Geschichten erzählen und wiederholt in Erinnerung rufen,

dass wir immer Individuen und niemals Kulturkreise

behandeln.

Kommunikation

»Serbisch?«, fragt mich ein Patient, gleich nachdem ich

ihn aufgerufen habe. »Leider nein, sprechen Sie Eng-

lisch?«, erwidere ich. Er wirkt enttäuscht und schüttelt

den Kopf. Na gut. Probieren wir es mit Deutsch. Eine

angenehme, vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen,

fällt mir ohne die Verwendung von verständlichen Worten

wesentlich schwerer. Oft ist dann die Anamnese, die

mittlerweile schon aus Gewohnheit mit auffälliger Gestik

und Mimik unterstützt wird, mehr als lückenhaft. Ich muss

daher nicht selten darauf hoffen, dass meine funktionelle

und manuelle Untersuchung aussagekräftiger für die Be-

funderhebung sein wird. Fragen, die mir gestellt werden,

verstehe ich oft nicht. Ob die Information, die ich dem

Patienten mitgeben möchte, korrekt aufgenommen wird,

bleibt mir schleierhaft. Die Sprachbarriere begleitet mich

durch viele Therapien und ist oft nur die auffälligste all der

Schwierigkeiten, die sich im Laufe der Zeit noch zeigen.

Besondere Aufmerksamkeit gebührt auch dem Bezug zum

eigenen Körper, den ein Individuum erst durch unter-

schiedliche Umwelteinflüsse entwickelt. Das Verständnis

von Gesundheit entspricht keiner globalen Norm. Deutlich

festmachen lässt sich dies unter anderem an Ernährungs-

und Bewegungsgewohnheiten. Schulische Turnstunden

oder betriebliche Gesundheitsförderung sind außerhalb

Europas eine Rarität. In manchen Kulturen ist es immer

noch üblich, dass Kranke und Verletzte ruhen, bis es

ihnen wieder besser geht. Hier die Compliance für eine

sinnvolle, aktive Therapie zu erarbeiten, erfordert daher

größeres Engagement.

Fall 2

Über ein Jahr nach einer konservativ

versorgten Radiusfraktur kann meine

Patientin ihr Handgelenk nicht alltags-

tauglich belasten. Mehrere ÄrztInnen

sehen eine eindeutige OP-Indikation.

Ergriffen sehe ich in die verweinten

Augen meiner Patientin. Sie hat Angst

davor, sich operieren zu lassen.

Warum? Aus religiöser Überzeugung

möchte sie von keinem Mann nackt

gesehen werden.

Fall 3

Es ist Ramadan. Ein junger,

sportlicher Patient klagt über

einschießende LWS-Schmerzen

beim Beten. Fünfmal am Tag übt

er dieselben Positionsabfolgen

im Stand und auf dem Boden aus.

Dürfen wir die Positionen ein

wenig abändern? Nein. Darfst

du Pausen einbauen? Nein.

Fall 1

Eine Patientin kommt mit Nacken-

schmerzen. Ihr Gatte begleitet sie, um

bei sprachlichen Differenzen zu über-

setzen. Im Laufe des Gesprächs ergibt

sich die Notwendigkeit, ihr zu erklären,

dass gezielte Aktivität hilfreich wäre.

Zum Glück wiederholt der Mann das

Erklärte immer zuerst auf Deutsch,

bevor er es auf Serbisch an seine Frau

weitergibt. »Du sollst mehr putzen,

sagt sie. Siehst du!«

© Tim UR – fotolia.com