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April 2017

11

Kulturelles Verständnis

Es muss sichergestellt werden, dass jeder Mensch

die medizinische Behandlung erhält, die er benötigt –

unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sozioökonomi-

scher Stellung oder Sprache. Kommunikationsschwierig-

keiten, Unkenntnis über medizinische Angebote sowie

beispielsweise Vorbehalte, bestehende Angebote zu

nutzen, dürfen keine Barrieren in der medizinischen Ver-

sorgung von MigrantInnen darstellen. Dies kann nicht

nur zu einer Fehl-, Unter- oder Überversorgung führen,

sondern verursacht neben menschlichem Leid auch

deutliche Mehrkosten und negative Langzeitfolgen,

die es zu vermeiden gilt.

Ein wichtiger Faktor in der physiotherapeutischen Be-

handlung von MigrantInnen ist daher die Einbeziehung

von kulturellen Aspekten. MigrantInnen haben häufig ein

ganz anderes Verständnis von Krankheit und Schmerzen.

Dies kann zu anderen Symptombeschreibungen und

deren Missdeutungen führen. Durch die Berücksichti-

gung kultureller Aspekte kann man zwar keinen Einfluss

auf das direkte Schmerzgeschehen nehmen, jedoch

die Lebensqualität der PatientInnen signifikant steigern.

So konnten Studien bereits zeigen, dass daraus ein

verbessertes Schlafverhalten sowie ein deutlich gestei-

gertes Bewegungsverhalten erreicht werden kann, was

wiederum dem Therapieerfolg entgegenkommt. Sensibi-

lität für Kultur und Diversität und gute Kenntnisse kultur-

spezifischer Unterschiede sind entscheidend für das

Behandlungsergebnis.

Es kann zudem bei rein praktischen Dingen wie der Ein-

haltung von Terminen, Pünktlichkeit etc. zu kulturellen

Missverständnissen kommen. Wichtig ist, diese Dinge

klar verständlich anzusprechen und ein wenig Geduld

aufzubringen. Auch die Erwartungshaltungen an den/

die TherapeutIn bzw. die Behandlungsziele sind kulturell

geprägt. Daher sollten der Wert und die Wichtigkeit von

Maßnahmen und Eigeninitiative möglichst offen bespro-

chen werden. PatientInnen müssen die Ziele verstehen

und mit ihnen einverstanden sein, sonst hilft die beste

Maßnahme nichts. Standardisierte Behandlungsverfah-

ren werden nicht zwangsläufig zu gleichen Ergebnissen

führen. Es braucht von beiden Seiten die Bereitschaft,

sich auf etwas Neues einzulassen. Da viele Modelle

und Ansätze eher westlich geprägt sind, ist es sinnvoll,

bestehende Konzepte im Austausch mit der Zielgruppe

anzupassen.

Miteinander kommunizieren

Im Kontakt mit MigrantInnen scheitert es häufig an der

Kommunikation und ein klärendes Erstgespräch ist

nicht möglich. Da eine Anamnese jedoch die Grundlage

aller weiteren Therapieschritte darstellt und ausschlag-

gebend dafür ist, wie sehr PatientInnen die Therapie

mitbestimmen und die vereinbarten Maßnahmen ein-

halten, ist es wichtig, sich in diesem Schritt ausreichend

Zeit zu lassen. Sofern es möglich ist, wäre selbstver-

ständlich die Einbeziehung von DolmetscherInnen von

Vorteil, häufig fehlt jedoch noch der Zugang zu diesen.

In diesen Fällen können folgende Handlungsanregungen

in der Begegnung mit MigrantInnen hilfreich sein:

°

Verwenden Sie eine einfache Sprache

°

kurze Sätze

°

Fachjargon vermeiden

°

Begriffe mit einfachen Wörtern

und Synonymen umschreiben

°

nicht mehr als ein Thema auf

einmal besprechen

°

Beachten Sie Mimik und Gestik

°

Beziehen Sie Zeichnungen, Bilder,

Piktogramme ein

°

Verwenden Sie ein Wörterbuch

°

Lokalisieren Sie diffuse Beschwerden

mittels Anatomieatlas gemeinsam

Darüber hinaus ist es zweckmäßig, bereits vorhandene

relevante Materialien in verschiedenen Sprachen oder

in einfacher Sprache zentral zu erfassen beziehungs-

weise auf Sprachkurse und bestehende Programme

zur Orientierung im Gesundheitssystem hinzuweisen.

Auch die Anwendung von Schmerzskalen kann ein

Instrument sein, um die Kooperation von Personen mit

Migrationshintergrund zu fördern. Freiwillige Erhebun-

gen und mehr Austausch zu den spezifischen Problem-

lagen, Wünschen und Good Practices der Berufsgruppe

der PhysiotherapeutInnen wären sehr spannend als

Grundlage zukünftiger Arbeiten mit der Zielgruppe.

Es bedarf eines ausreichenden Angebots an Aus-, Fort-

und Weiterbildungsmaßnahmen zum Themenkomplex

der transkulturellen Kompetenz sowie Unterstützungs-

maßnahmen, um die beschriebenen wachsenden

Qualifikationsanforderungen an PhysiotherapeutInnen

sicherstellen und die Zielgruppe adäquat behandeln

zu können.

Außerdem sollte weiterhin daran gearbeitet werden,

MigrantInnen verstärkt selbst als Arbeitskräfte in

diesem Bereich zu gewinnen und das Angebot der

Physiotherapie durch Vernetzung, MultiplikatorInnen-

projekte, Programme etc. der Zielgruppe näherzubrin-

gen und eventuell vorhandene Vorbehalte aufzulösen.

Im Rahmen dieser Maßnahmen sollen PatientInnen

auch über den Unterschied von Wahl- und Vertrags-

therapeutInnen, über Selbstbehalte und die Möglich-

keiten der Rückforderungen aufgeklärt werden.

Verbesserte Forschung und Sensibilisierung für dieses

Thema sind langfristig notwendig, um gesundheitliche

Chancengerechtigkeit in Österreich zu erreichen.

»ZEICHNUNGEN, BILDER,

PIKTOGRAMME UND

WÖRTERBÜCHER KÖNNEN

IN DER BEGEGNUNG

MIT MIGRANTiNNEN

HILFREICH SEIN.«

HERAUSFORDERUNGEN

Mag. Verena Grünstäudl