physio
austria
inform
September 2017
11
Die klinische Erfahrung hat gezeigt, dass der Einsatz
spezifischer Assessments zur Identifizierung von Pro-
blemen und Ressourcen sehr hilfreich sein kann. Die
skandinavischen Behandlungskonzepte Norwegian
Psychomotor Physiotherapy (NPMP) und Basic Body
Awareness Therapy (BBAT) bieten komprehensive,
valide und reliable Instrumente an, die in Kursen erlernt
werden können. Als Beispiele seien hier die Ressource
Oriented Body Examination (ROBE) und die Body Aware-
ness Rating Scale (BARS) erwähnt. In der Praxis bewährt
haben sich auch Körperbildzeichnungen und Körperbild-
skulpturen. Als nonverbale Ausdrucksmittel bringen sie
oft unbewusstes Material zutage, das für die Therapie
aufschlussreich sein kann.
Neben allen technischen Aspekten ist es wichtig zu
bedenken, dass der Erstbefund die entscheidende Situa-
tion für einen guten weiteren physiotherapeutischen
Prozess ist. Die erste Begegnung muss dafür vor allem
eines sein: vertrauensstiftend. Alles Untersuchen und
Erfragen hat auch ein konfrontatives Element in sich
und kann für den Beziehungsaufbau problematisch sein.
Es ist bekannt, dass der/die TherapeutIn als Person und
die therapeutische Beziehung wesentliche Faktoren für
das therapeutische Outcome sind. Daher sind in der
Physiotherapie im Bereich Mental Health die reflexive
Arbeit an sich selbst und eine klare therapeutische
Haltung elementar. Leitende Fragen für Physiothera-
peutInnen können sein: Welchen Bezug habe ich zu
meinem eigenen Körper? Habe ich meine eigene Lebens-
geschichte durchgearbeitet und mein Gewordensein
ansatzweise verstanden? Kenne ich meinen eigenen
»blinden Fleck«, meine Vorurteile und Tendenzen?
Was sind meine Bedürfnisse und wie gehe ich mit
meinen eigenen Emotionen um?
Professionalisierung
Die Professionalisierung in der Physiotherapie im Fach-
bereich Mental Health begann 1946 mit der Zusammen-
arbeit von PhysiotherapeutInnen und PsychiaterInnen in
Norwegen und der daraus entstehenden NPMP. In den
1970er-Jahren führten andere Entwicklungen in Schwe-
den zur Entstehung der BBAT. Am Anfang stand unter
anderem die Einsicht, dass die klassisch-somatische und
symptomorientierte Physiotherapie in vielen Fällen nur
kurzfristige und unzureichende Erfolge brachte. Seit
1994 sind in Skandinavien postgraduale Ausbildungen
und Studien für Physiotherapie im Fachbereich Mental
Health bis zum PhD institutionell verankert.
In Österreich arbeitet das fachliche Netzwerk Mental He-
alth an der Weiterentwicklung und Professionalisierung
der Physiotherapie in diesem wichtigen Bereich. Seit
heuer gibt es die Möglichkeit, sich in drei aufeinander
aufbauenden Wochenendkursen vertieft damit
auseinanderzusetzen.
Weltweit ist die International Organization of Physical
Therapists in Mental Health (IOPTMH) als Subgruppe
des Weltverbands für Physiotherapie (WCPT) tätig. Sie
organisiert alle zwei Jahre die International Conference
of Physical Therapy in Psychiatry and Mental Health
(IC-PPMH). Die nächste Konferenz findet von 10. bis
12. April 2018 in Island statt.
◼
Stefan Perner, BA, BSc
freiberuflicher Physiotherapeut,
Lehrender an der FH Campus
Wien, Gründungsmitglied des fach-
lichen Netzwerks Mental Health,
derzeit berufsbegleitendes
Studium in Norwegen
Bezahlte Anzeige
LITERATUR
Ekerholt, K. (2010). Aspects of
psychiatric and psychosomatic
physiotherapy. Oslo: Oslo
University College.
Hölter, G. (2011). Bewegungs-
therapie bei psychischen
Erkrankungen. Köln: Deutscher
Ärzte-Verlag.
Probst, M.; Skjærven, LH. (2017).
Physiotherapy in Mental Health
and Psychiatry. A scientific and
clinical based approach.
Amsterdam: Elsevier.
Fachliches Netzwerk Mental Health
Das fachliche Netzwerk Mental Health
von Physio Austria arbeitet seit 2013 an
aktuellen Themen zur physiotherapeu-
tischen Professionalisierung im Fach-
bereich. Arbeitstreffen finden dreimal im
Jahr statt. Sind Sie an einer Mitarbeit
interessiert?
Wir freuen uns über Ihre Nachricht an:
mental-health@physioaustria.atEin Informationsfolder für
PatientInnen, KlientInnen
und Interessierte steht
Physio Austria-Mitgliedern
auf
www.physioaustria.atzur Verfügung.
INNENWELTEN
Stefan Perner, BA, BSc