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physio
austria
inform
September 2017
Viele PatientInnen kritisieren das dualistische Körper-
Psyche-Paradigma und erleben sich im Medizinsystem
objektifiziert. Die Reduktion auf das Symptom macht es
schwer, den ProfessionalistInnen zu vertrauen. Die häufig
gestellte Frage, was PhysiotherapeutInnen denn bei
psychischen Störungen überhaupt zu behandeln hätten,
kann als Ausdruck dieser cartesianischen Sichtweise
gedeutet werden. Darauf wird im nächsten Abschnitt
näher eingegangen.
Anwendungen
Physiotherapie im Fachbereich Mental Health umfasst
die körperorientierte und ganzheitliche Behandlung von
Menschen aller Altersgruppen, die 1.) an psychosozialen
und psychosomatischen Störungen akut oder chronisch
leiden und 2.) Bedarf an körperorientierter Prävention
und Persönlichkeitsentwicklung haben.
Typische Aufgabenbereiche der Physiotherapie sind die
Behandlung von chronischen Muskelverspannungen und
Schmerzen, von Veränderungen im Atemmuster, von
einer problembringenden Körperhaltung, von einer
verminderten Bewegungsqualität, von Störungen im
Körpererleben, Körperbild und Körperschema. Sozialer
Rückzug, verminderte oder erhöhte körperliche Aktivität
und Schlafstörungen können damit einhergehen.
Grundsätzlich können in der Physiotherapie im Bereich
Mental Health ein allgemeiner und zwei spezifische
Ansätze unterschieden werden, wobei die Kombination
von Elementen dieser drei Bereiche oftmals sinnvoll ist.
1 Im allgemeinen Bereich geht es um Angebote zur
körperlichen Aktivität und Entspannung. Diese
können sportliche Aktivitäten (insbesondere Aus-
dauertraining), Gymnastik, Tanz, fernöstliche Bewe-
gungskonzepte, allgemeine Achtsamkeitsübungen
und Wahrnehmungsschulung sowie körperbezo-
gene Entspannungstechniken beinhalten. Oftmals
finden diese Angebote im Gruppensetting statt.
2 Die strukturierende Physiotherapie hat zum Ziel,
mit körperorientierten Mitteln Halt und Sicherheit
zu vermitteln. Es geht hier um die Bestätigung und
Konsolidierung der Realitätsprüfung. Auf einer leibli-
chen Ebene heißt das typischerweise: Ich stehe auf
meinen eigenen Füßen und mit beiden Beinen am
Boden; ich bin lebendig und handlungsfähig aus ei-
gener Lebenskraft; ich nähere mich an, verbinde
mich und grenze mich ab; ich bin und bleibe bei
aller Veränderung trotzdem selbig und habe ein
Gefühl für dieses Selbstsein. Insbesondere Men-
schen mit stark vermindertem Bezug zu sich selbst
und drohendem Realitätsverlust bedürfen dieses
stützenden Ansatzes. Die Konfrontation und das
Auslösen von emotionalen oder vegetativen Reak-
tionen sind hier jedenfalls nicht das Thema.
3 In der lösenden Physiotherapie kommen Elemente
zum Einsatz, die starr gewordene Verhaltensmuster,
Gewohnheiten und Symptome auf einem direkteren
Weg zu lockern versuchen. Voraussetzungen dafür
sind jedenfalls eine hinlängliche Ich-Stärke, Stabili-
tät und Reagibilität der PatientInnen und eine
besonders behutsame Vorgehensweise der Physio-
therapeutInnen. Eine Grundannahme ist, dass das
Symptom im Gesamten eine notwendige Funktion
hat oder hatte. Das Lösen des Symptoms führt also
potenziell zu einem Ungleichgewicht, kann Dahin-
terstehendes wieder auslösen, retraumatisieren
oder gar zur Dekompensation führen.
Der physiotherapeutische Prozess beginnt mit dem
Erstbefund, bestehend aus Gespräch, Beobachtung,
umfassender körperlicher Untersuchung, speziellen Tests
und Assessments. Er führt zur physiotherapeutischen
Diagnose nach ICF und gibt Auskunft darüber,
°
welchen Bezug der/die PatientIn zu sich selbst
und zur Umwelt aus körperlicher Perspektive hat,
°
welche Symptomatik und welche Ressourcen im
Einzelnen vorliegen und welche Rollen sie im
Gesamten spielen
°
und welche Form und Intensität der Behandlung
zielführend sind.
Themenschwerpunkt
Mental Health und Physiotherapie
KURSANKÜNDIGUNG
Internationale Weiterbildung
Mental Health in der Physiotherapie
Resource Orientated Body Examination (ROBE)
26. bis 28. April 2018
Wien, Physio Austria Kurszentrum
Kirsten Ekerholt, PhD