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physio
austria
inform
September 2017
Themenschwerpunkt
Mental Health und Physiotherapie
Eltern, Familie und zentralen Personen im Leben der
Betroffenen stehen ebenfalls spezielle Betreuungs-
angebote zur Verfügung. Die Kinder- und Jugend-
psychiatrie hat die Besonderheit, dass sich der
Bereich »Erleben und Verhalten« mit dem Bereich
»Bewegungsentwicklung und -kontrolle« überschnei-
det. Bei vitaler Bedrohung erfolgt die Therapie
täglich am Bett. Sobald der Allgemeinzustand
es erlaubt, erhalten die Patientinnen eine individuell
gestaltete Einzeltherapie (Lösen von Verspannungen,
Atemvertiefung, Verbesserung der Wahrnehmung von
Becken- und Hüftbereich, Loslassen der Muskulatur
allgemein, Behandlung der Spannungszustände im
Bauchbereich, isometrische Spannungsübungen
zur Körperwahrnehmung und Haltungskorrektur,
individuelle orthopädische Therapieziele). Fixpunkt
für alle Betroffenen sind Gruppenbehandlungen.
Die Schwerpunkte der Kraftgruppe (Tonusregulation,
Körperkenntnis) liegen in physiologischer Übungs-
durchführung, Pauseneinhaltung und postisometri-
scher Relaxation sowie in der Aufklärung zum Thema
Osteopenie/Osteoporose. Die Schwerpunkte der
Bewegungsausdrucksgruppe (positive Auswirkungen
auf Atmung, Stimmung, Befindlichkeit, Körper-
schema/Körpererleben) liegen in der Erweiterung
des Bewegungsrepertoires, im Spaß an der Be-
wegung, in Materialerfahrungen und sozialen
Erfahrungen. Patientinnen mit hohem Maß an
Eigenverantwortung haben die Möglichkeit, an
physiotherapeutischem Yoga teilzunehmen.
Die Veränderung der Haltung, des Bewegungsver-
haltens und des Atemmusters gehen Hand in Hand,
ebenso wie das immer differenziertere Wahrnehmen
und Benennen des gesamten Körpers.
Sinneswahrnehmung
Erstaunlich ist der positive Effekt von Behandlungsmaß-
nahmen im Sinn einer Ich-Demarkation. A. J. Ayres
beschrieb den Hautsinn als das Organ, das Voraussetzung
für eine gute Bindung ist und dessen Reize notwendig
sind, um das Wahrnehmungssystem geordnet zu halten.
Es hilft den Patientinnen zur Ruhe zu kommen, wenn
sie ihre Körpergrenzen konkret spüren können.
Dr. Julia Philipp hat in ihrer Diplomarbeit im September
2012 zum Thema »Der Zusammenhang zwischen Thera-
piemotivation, Therapieerfolg und Therapiezufriedenheit
bei jugendlichen PatientInnen mit Anorexia nervosa in
stationärer Behandlung« auch die Physiotherapie mitein-
bezogen. Ihr Ergebnis: Es gibt eine positive Korrelation
zwischen Zufriedenheit mit der Physiotherapie und der
Zunahme des BMI. Die Erhebung der Zufriedenheit mit
der Therapie ergab, dass von 14 Therapieangeboten die
Zufriedenheit mit der Physiotherapie an zweiter Stelle
nach der Zufriedenheit mit Gesprächen mit Psycho-
therapeutInnen liegt. An dritter Stelle findet sich die
Zufriedenheit mit Gesprächen mit ÄrztInnen.
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Sonja Beye
Physiotherapeutin am AKH Wien,
seit 2004 im Fachbereich Kinder-
und Jugendpsychiatrie, Schwer-
punkt auf Arbeit mit an Anorexie
erkrankten Patientinnen
LITERATUR
Ayres, J. A. (1984). Bausteine
der kindlichen Entwicklung.
Berlin-Heidelberg-New York-
Tokyo: Springer Verlag.
Karwautz, A., et al. (2015).
Wiener Therapiekonzept für
Adoleszente mit Magersucht.
AKH der Stadt Wien, Universi-
tätsklinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie.
Philipp, J. (2012). Der Zusam-
menhang zwischen Therapie-
motivation, Therapieerfolg und
Therapiezufriedenheit bei
jugendlichen PatientInnen mit
Anorexia nervosa in stationärer
Behandlung. Diplomarbeit,
Universitätsklinik für Kinder-
und Jugendpsychiatrie.
Remschmidt, H., et al. (2011).
Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Stuttgart-New York: Thieme
Verlag KG.