physio
austria
inform
September 2017
9
Was bedeutet nun das Zusammenspiel der verschiedenen
Teile aus Sicht der Physiotherapie? Auf der allgemeineren
Ebene sind die Zusammenhänge von körperlichen, kogni-
tiven, emotionalen und sozialen Aspekten gemeint. Dabei
verstehen wir den Körper über seine Objekthaftigkeit
hinausgehend im Sinne von Merleau-Ponty primär als Leib,
der ich bin. Dieses leibliche Sein, auf das alles Tun aufbaut,
ist hintergründig und präreflektiv. Ich sage spontan kaum:
Mein Körper geht, läuft, schreibt einen Artikel, ist fröhlich
oder traurig – vielmehr sage ich unter Einbezug meiner
leiblichen Existenz selbstverständlich, dass ich fröhlich
bin oder einen Artikel schreibe. In der Physiotherapie
können z. B. folgende Fragen diese erste Ebene themati-
sieren: Wo und wie spüre ich meine Emotionen? Was
passiert körperlich, wenn ich Angst bekomme? Welche
psychosoziale Funktion hat eine bestimmte körperliche
Verhaltensweise? Was denke ich über mein körperliches
Dasein und wie hängt es mit anderen Aspekten zusam-
men? Wie reagiere ich körperlich in bestimmten Situatio-
nen? Woran spüre ich körperlich, dass ich mich wohl fühle?
Was kann ich selbst dafür tun, was hilft mir dabei?
Gibt es mögliche Alternativen zum Gewohnten?
Auf der detaillierteren Ebene geht es um den Zusammen-
hang körperlicher Aspekte untereinander, z. B. von
Atmung, aktiver und passiver Bewegung, Körperhaltung
und der Muskelspannung in verschiedenen Körperab-
schnitten. Grundsätzlich gilt: Veränderungen in einem
Teil führen zu Veränderungen im Gesamten. In einem
integrativen Sinne umfasst die physiotherapeutische
Behandlung also den gesamten Körper. Auswirkungen
auf das psychische und soziale Geschehen liegen in der
Natur der Sache und sind therapeutisch erwünscht.
Das Kurieren des Symptoms greift in den meisten Fällen
zu kurz. Aus naturwissenschaftlicher Sicht erscheinen
diese Überlegungen vielleicht irrelevant oder nicht ver-
ständlich, da sie ihrer Methodik nach aus biologischer
Perspektive argumentiert. Sie fragt nicht nach der perso-
nalen, subjektiven und intersubjektiven Realität, die für
die therapeutische Arbeit aber wegweisend erscheint.
Daher orientiert sich die Physiotherapie im Fachbereich
Mental Health an der Phänomenologie und Hermeneutik,
die eben dafür eine wissenschaftliche Sprache spricht
und qualitative Evidenz generiert. Die Notwendigkeit für
diesen methodologischen »shift in perspective« leitet
sich primär aus der klinischen Erfahrung ab.
»DIE ERSTE BEGEGNUNG MUSS
VOR ALLEM EINES SEIN:
VERTRAUENSSTIFTEND.«
INNENWELTEN
Stefan Perner, BA, BSc