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physio
austria
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Dezember 2013
Es mag erstaunlich erscheinen, dass bei Sportlerinnen
und gerade bei Tänzerinnen im Ballett und gymnastischen
Leistungssport die Prävalenz von Beckenbodenbeschwer-
den und Stressinkontinenz sehr hoch ist. Nicht nur wird
gerade diesen Frauen höchster Trainingsstatus zuge-
schrieben, sondern grundlegende muskuläre Prinzipien
des Tanzes stehen in direktem Zusammenhang mit der
Beckenbodenmuskulatur und müssten folglich beispiels-
weise über das En Dehors oder »Turn-ou«, der Außen-
rotation des Beines aus der Hüfte, täglich trainiert
werden. Die dennoch erhöhte Rate der Stressinkontinenz
resultiert unter anderem daraus, dass Leistungssport-
arten mit hohem Sprunganteil die Prävalenz von Becken-
bodenbeschwerden stark erhöhen. Vergleicht man bei-
spielweise die Prävalenz von 0% im Golfsport mit der
Prävalenz urinaler Inkontinenz im Trampolinspringen
von 80%, so ist der Anteil des Springens an der jeweiligen
Sportart ein Wertungskriterium.
Doch nicht allein das Springen ist Grund für die erhöhte
Stressinkontinenz bei Tänzerinnen. Auch eine reduzierte
Flexibilität des Fußes könnte aufgrund mangelnder
Schock absorbierender Wirkung die Leistungsfähigkeit
des Beckenbodens beeinträchtigen. Obwohl Tänzerinnen
ihre Profession auf die Gesundheit ihrer Füße stützen,
wird vielfach wenig dafür getan, die Füße bewusst zu
trainieren und für die Anforderungen des Tanzes fit zu
machen bzw. zu erhalten. Das typische Schuhwerk, das
aus Tanzschuhen mit oft sehr hohen Absätzen, weichen
Schläppchen oder Spitzenschuhen besteht und nicht die
geringste Schockabsorption bietet, sowie für den Tanz
zu harte und somit ungeeignete Böden, können die Be-
lastung für den Beckenboden noch weiter erhöhen.
Aufgrund der körperlichen Anforderungen werden im
Rahmen der Eignungstests besonders häufig Tänzerinnen
mit einer generalisierten Hypermobilität für diesen Beruf
ausgewählt. Eine Untersuchung von Bø et al. (1994) liefert
Hinweise darauf, dass im Falle ausreichend kräftiger Be-
ckenbodenmuskulatur eine dennoch vorliegende Inkonti-
nenz durch ein benignes Hypermobilitäts-Syndrom erklärt
werden kann. Nicht wenige Tänzerinnen haben damit zu
kämpfen, ihre Hypermobilität über muskuläre Stabili-
sation so weit auszugleichen, dass ihr Körper gesund
und leistungsfähig bleiben kann. Während Beine, Füße
und Rücken über das natürliche Maß hinaus flexibel
gehalten werden, muss sich das Becken dieser Mobili-
tät als stabiles Zentrum entgegensetzen. Seine elas-
tisch-reaktive Funktionalität und Flexibilität zu erhalten
ist eine Herausforderung.
Conclusio
Der Beckenboden einer Tänzerin ist gemäß ihres Trai-
ningszustandes hoch trainiert, und die gesamte Mus-
kulatur weist eine viel höhere Grundspannung auf. Der
im MRT sichtbar als Kuppel in den Bauchraum hochge-
wölbte Beckenboden ist an der täglichen Atmung und
Bewegung wie Gehen und Laufen beteiligt. Vorausset-
zung dafür, dass er die Organe des Bauches nach dem
Einatmen wieder in ihre Lage zurückhebt, ist seine Fä-
higkeit zu schwingen, sich Bewegungen wie Atmen
oder Gehen anzupassen und auch bei raschen Druck-
veränderungen einem Druckanstieg im Bauchraum
vorab entgegenzuwirken. Diese Anpassungsfähigkeit
resultiert nicht ausschließlich aus einem hohen Mus-
keltonus und trainierter Kontraktionsbereitschaft, son-
dern eben auch aus einer funktionalen Flexibilität. Ein
durch das tägliche Training übertrainierter Beckenbo-
den kann dafür jedoch einen zu hohen Muskeltonus
aufweisen. Dieser »harte« oder »steife« Beckenboden
erscheint aus diesem Blickwinkel betrachtet als Nach-
teil in einem an sich gesunden Sportlerleben. Kommt
es zu raschen Druckveränderungen, wie beim Absprin-
gen, Landen oder während einer Hebung, könnte die
nötige zusätzliche Spannungserhöhung in der mehr-
schichtigen Muskelkuppel zu spät oder gar nicht mehr
zum Einsatz kommen.
Themenschwerpunkt
Becken
© Ingrid Kiselka